Vom Monster zum Kuscheltier

Großer Bruder Wal

Die Mythologie der Maori erzählt, dass die ersten Ahnen auf dem Rücken eines Wals ins "Land der großen weißen Wolke" Aotearoa geritten sind. Und im äußersten Osten Sibiriens glaubt man, dass der Mensch gewordene Wal Reu der Vater der Menschheit ist.

Längst sind die Zeiten vorbei, als man den Wal als gigantisches Seeungeheuer fürchtete und glaubte, dass man, einmal gefressen, im Bauch eines solchen Riesentieres überleben könne, wie es Jonas in den alten Zeiten der Bibel gelang, oder Geppetto, dem Holzschnitzer und Vater von Pinocchio. Als Disney den Collodi-Bestseller ins Kino brachte, schien es ihm sinnvoll, den Wal ziemlich unsympathisch darzustellen. Das war 1940, da war Moby Dick, der unbesiegbare weiße Wal, noch in allen Köpfen.

Wale werden zu Freunden

Es war wie ein Erwachen. Plötzlich - 20 Jahre nach Disneys "Pinocchio" - änderte sich die Wal-Mensch-Beziehung radikal. Möglicherweise begann diese neue Facette mit dem Interesse populärwissenschaftlicher Zeitschriften an den Walen, vielleicht mit dem preisgekrönten Buch "The Year of the Whale", in dem Victor Scheffer halb wissenschaftlich, halb belletristisch das erste Jahr eines jungen Pottwals mit dem Namen "Little Calf" schildert.

Vielleicht begann es aber auch mit dem jungen Orca, der sich in einem Fischernetz verfangen hatte, gerettet wurde und als "Namu", als Star des Seattle Aquariums, alle Vorurteile über grausame Killerwale zum Verschwinden brachte. Namu wurde (möglicherweise) zum Vorbild von "Willy", dem Star von "Free Willy", der 1993 in die Kinos kam, und eine eindeutige Botschaft verbreitete: Wale gehören ins Meer und nicht in ein Ozeanium. Damals hatte "Whale Watching" als Freizeitvergnügen bereits Kultstatus.

Stoppt den Walfang!

1970 nahm Roger S. Payne "Die Gesänge der Buckelwale" auf, 1972 verabschiedete die UN-Umweltkonferenz in Stockholm eine einmütige Resolution, die zu einem Stopp des kommerziellen Walfangs aufrief. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis "Rettet die Wale" ein Slogan der Umweltschützer wurde. Und sicher war "Star Trek IV: The Voyage Home" nicht unbeteiligt daran. Sie erinnern sich? Eine fremde Raumsonde bedroht im 23. Jahrhundert die Erde, weil deren Mannschaft ihre Brüder sucht, die zweite intelligente Lebensform des blauen Planeten: die Wale. Das war 1986.

Im Jahr darauf entstand "Whales Alive", ein musikalisch-literarisches "Konzept-Album": Der Saxophonist und Komponist Paul Winter musizierte mit Melodien von Walen, die Roger S. Payne für diese Produktion konfektioniert, d.h. durch schnelleres oder langsameres Abspielen in musikalische Dimensionen übertragen hat - und Leonard Nimoy, der Spock der Star-Trek-Saga, rezitiert dazu Gedanken und Erzählungen über Wale.

Reiche Mythologie

Dass Wale in der Mythologie verschiedener Völker eine wesentliche Rolle spielen, vermitteln uns die Schriftsteller "vom Rande der Welt", allen voran der Tschuktsche Juri Rytcheu, der in seinem 1975 zum ersten Mal veröffentlichten Roman "Wenn die Wale fortziehen" die Geschichte der Menschenfrau Nau erzählt, die so lieblich war, dass der Wal Reu aus Liebe zu ihr zum Mensch wurde und mit ihr das Menschengeschlecht zeugte.

1986 schrieb die Neuseeländerin Keri Hulme, die stolz bekannt gab, dass einer ihrer Vorfahren mütterlicherseits Maori war, ihre Erzählung "Der Wal singt", in der sie einen Teil aus der Perspektive eines schwangeren Walweibchens erzählt. Und im selben Jahr schrieb der neuseeländische Maori Witi Ihimaera die magische Geschichte vom Mädchen, das - wie seine Vorfahren - den Wal ritt. "Whalerider" wurde verfilmt und kam 2003 in die Kinos. Die Hauptdarstellerin wurde sogar für einen Oscar vorgeschlagen.

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 20. August 2009, 11:40 Uhr

Buch-Tipps
Keri Hulme, "Der Windesser, Te Kaihau", S. Fischer Verlag

Witi Ihimaera, "Whalerider. Die magische Geschichte vom Mädchen, das den Wal ritt", rororo

Juri Rytcheu, "Wenn die Wale fortziehen", Unionsverlag

CD-Tipps
"Die Gesänge der Buckelwale", BA 64900, Extraplatte

Paul Winter/Paul Halley, "Whales Alive", Living Music LD0013, Extraplatte