Srebrenica - ein Lokalaugenschein zehn Jahre danach

Ausflug in eine tote Stadt

Am 11. Juli 1995 nahm die Armee der bosnischen Serben unter General Ratko Mladic die unter UN-Schutz stehende Enklave Srebrenica ein und ermordete tausende Zivilisten. Zehn Jahre danach ist die Gegend noch immer von diesem Völkermord gekennzeichnet.

Statement von Franjo Komarica, Bischof von Banja Luka

Am 11. Juli 1995 kam es in der unter UN-Schutz stehenden Enklave Srebrenica zu einem der schlimmsten Massaker an Zivilisten auf europäischem Boden: Die Armee der bosnischen Serben unter General Ratko Mladic ermordete nahezu 8.000 bosnische Muslime und ließ Tausende Frauen und Kinder deportieren. Die niederländischen Blauhelme waren damals nicht in der Lage, die Bevölkerung zu schützen.

Zehn Jahre danach wirkt Srebrenica - aus der Ferne betrachtet - wie eine ganz normale Stadt. Von den bewaldeten Hügeln aus lässt sich ein Minarett gut erkennen, die Moschee liegt nur ein paar hundert Meter von der serbisch-orthodoxen Kirche entfernt. Einige der Wohnhäuser dazwischen sehen so aus, als seien sie einfach noch nicht fertig geworden - wie Rohbauten auf denen das Dach fehlt. Aber der Schein trügt.

Einst Silberstadt - jetzt Totenstadt

Vor dem Bosnienkrieg mag der Name "Silberstadt" treffend gewesen sein. In den nahen Bergminen wurde Zink, Blei und eben auch Silber gefördert. Zudem zog eine Heilquelle jede Woche Tausende von Kurgästen an. Die Stadt war reich.

Lebten vor dem Krieg noch etwa 37.000 Menschen in Srebrenica, sind es heute nach ungefähren Schätzungen zwischen 5.000 und 7.000 Menschen, darunter etwa 4.000, die nach dem Bosnien-Krieg zurückgekehrt sind. Wie sie allerdings hier leben, deutet ihr moslemischer Bürgermeister, Abdurrahman Malkic, an:

"Gerade in Srebrenica ist es schwer zu leben. Hier leben nur noch die, die hier einfach leben müssen und nirgendwo anders hingehen können“.

Verteilung der Hilfsgelder gescheitert?

Mehr als 66 Millionen Euro an Spenden sollen von den mehr als 70 Hilfsorganisationen zusammengekommen sein. Abdurrahman Malkic bezweifelt das: "Sicher ist da bei vielen Hilfsprojekten etwas falsch gelaufen“. Die Vertriebenen in Tuzla oder Sarajewo hätten zwar viel bekommen, vor allem Lebensmittel, sagt er, verweist aber im gleichen Atemzug an die Behörden des Kantons und die bosnische Regierung in der Hauptstadt. Dort wiederum ist aber noch von ganz anderen Zahlen die Rede: Bis zu 150 Millionen Euro sollen in den letzten zehn Jahren gespendet worden sein, um Srebrenica wieder aufzubauen. Die momentane Situation in der Stadt beweist aber ein anderes Bild…

Arbeitslosigkeit, kaum Wasser und Strom

Die meisten Menschen leben in den ländlichen Teilen der Gemeinde und haben keine Arbeit, von familiärer Landwirtschaft einmal abgesehen. Etwa 1.300 Häuser sind wieder aufgebaut worden, knapp 5.000 liegen immer noch in Trümmern oder sind zumindest stark beschädigt. Hinzu kommt, dass die Wasser- und Stromversorgung vor allem in die ländlichen Gebiete kaum gewährleistet ist.

Dies alles hält vor allem jüngere Menschen davon ab, in ihr Land zurückzukehren, und viele, die wieder gekommen sind, wandern deswegen auch wieder ab. Es mangelt aber nicht nur an elektrischem Strom, fließendem Wasser, Arbeitsplätzen und dem Willen zur Rückkehr, sondern auch an Wahrheit und Bewusstsein, an Reue und Vergebung.

Misstrauen zwischen Opfer und Täter

Die 46-jährige Muslimin Sabra Kolenovic beispielsweise lebt inzwischen in Sarajewo. Wenn sie nach Srebrenica komme, kehrten alle Erinnerungen und Schmerzen zurück, die sie erlitten habe: "Ich versuche sie zu unterdrücken, aber es gelingt mir nicht. Unten in der Stadt ist das Misstrauen zuhause: Hier und in der Umgebung von Srebrenica wohnen Opfer und deren Angehörige, genauso wie Täter und ihre Familien“.

Der Vorsitzende des Stadtrats, der serbische Arzt Radomir Pavlovic, meint, ein Großteil der Menschen hier sei schwer traumatisiert. Nach seinem Urteil prägt das Trauma jedes einzelnen das Leben der Menschen in Srebrenica: "Als Mediziner sehe ich da gewisse Widerstände im Umgang, die Menschen agieren aber nicht gegeneinander, sie leben nebeneinander her“.

Ohne Arbeit - kein Leben

Natürlich gibt es auch in Srebrenica so etwas wie ein normales Leben: Ein Paar Geschäfte, eine Apotheke, Cafés. In einigen Vorgärten stehen immer noch Container herum, andere Häuser sind in passablem Zustand. Es gibt sogar ein Hotel, auch wenn kaum jemand rät, sich dort einzuquartieren.

Der Moslem Comir Spahic, der 1999 nach Srebrenica zurückgekehrt ist, betreibt sogar ein eigenes Restaurant, aber auch er beklagt sich: "Ohne Arbeit - kein Leben“, sagt er: "Seine Kinder haben studiert, doch sie wollen nicht nach Srebrenica ziehen, weil sie hier kein Geld verdienen können. Srebrenica ist eine tote Stadt. Die meisten großen Fabrikhallen stehen jetzt leer“.

Ohne Klärung der Schuldfrage - kein Frieden

Der Brite Paddy Ashdown, höchster Vertreter der internationalen Gemeinschaft in Sarajewo, beurteilt das Massaker von 1995 als endzeitliches Verbrechen: "Genozid, Völkermord, ein Verbrechen, für das die Schuldigen gerichtet werden müssen. In diesem Land wird es keinen Frieden geben, bis das passiert. Wenn es eine Sünde ist, und es war eine der furchtbarsten Sünden, dann liegt die Schuld natürlich zuerst auf den Schultern jener, die sie begangen haben“.

Keiner der Einwohner Srebrenicas ist bisher vom Haager UN-Gerichtshof angeklagt worden. Andererseits stehen vor dem neuen bosnischen Sondergericht für Kriegsverbrechen noch viele Verfahren an. Auch ein Teil der Hauptverantwortlichen des Massakers, allen voran Radovan Karadzic und General Ratko Mladic, befinden sich noch auf freiem Fuß. Der Weg zu einer Versöhnung an diesem ehemaligen Ort des Schreckens scheint jedenfalls noch sehr weit zu sein.

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Links
GEO.de - Was am 11. Juli 1005 geschah
UNO - ICTY (Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag)
UNO - ICTY Anklage gegen Karadzic und Mladic