Stets fühlbare Abgründigkeit
Endlich Stille
Schwer zu sagen, worin die stets fühlbare Abgründigkeit des Textes von Karl-Heinz Ott besteht: Allen Figuren, die die Erzählung durchqueren, haftet etwas Alltägliches an, etwas, was wir beim Lesen zu erkennen glauben - und doch ist alles anders.
8. April 2017, 21:58
Nach welcher Art Stille in Karl-Heinz Otts Roman "Endlich Stille" verlangt wird und ob sie nun vielleicht doch, wie es einmal im Text behauptet wird, gleichzusetzen sei mit dem Tod, muss unentschieden bleiben.
Kein Entkommen
Die Ereignisse, von denen der ich-erzählende Universitätsprofessor für Philosophie retrospektiv berichtet, sind - zumindest oberflächlich - leicht nacherzählt: Auf dem Straßburger Bahnhof wird er vom etwas "herunter gekommenen" Musiker und ehemaligen Hochschulprofessor Friedrich Grävenich angesprochen - ein Moment, in dem sich die Fähigkeit des Ich-Erzählers, einen eigenen Willen zu zeigen, offenbar restlos verflüchtigt. Statt "nein" zu sagen verbringt er unheilvolle Stunden mit diesem rätselhaften Fremden, in denen er sich fast ausschließlich als beliebigen Zuhörer und Saufkumpane benutzen lässt.
Von nun an gelingt bis zum bitteren und unbedingten Ende keine Flucht mehr: der Ich-Erzähler, der sich seiner Lage zwar bewusst ist, ihr aber nichts entgegen setzen kann, versäuft und vergammelt mit seinem Kompagnon einen Tag um den anderen, er wird ganz Marionette, ohne sich dabei etwas vorzumachen, ohne aber auch zu wissen, weshalb er in diese unfassbare Situation geraten ist. Aus der kann er sich nur befreien, indem er den unfreiwilligen Freund ganz und gar vernichtet.
Abgeklärtheit vs. leidenschaftliche Verweigerung
Allen Figuren, die die Erzählung durchqueren, haftet etwas Alltägliches an, etwas, was wir beim Lesen zu erkennen und wieder zu erkennen glauben, selbst die beiden Protagonisten, die zu so drastischen Charakteren verdichtet werden, lassen Eigenschaften durchscheinen, die im Allgemeinen stillschweigend akzeptiert werden und kaum der Erklärung bedürfen.
Dem Ich-Erzähler, dem abgeklärten, angesehenen Universitätsprofessor, kann kaum noch was passieren, so gut eingerichtet ist sein Leben in einem gleichmäßigen Trott von rein funktionalem Denksport und nicht minder funktionalem Beziehungsleben. Der Gegenspieler dieses an sich so alltäglichen Ich-Erzählers kann mit etwas mehr Originalität aufwarten, immerhin ist er wenigstens ein leidenschaftlicher Verweigerer.
Während er von der Musik derart besessen zu sein schien, dass er sich von ihr, wie er jedenfalls in Straßburg behauptet hatte, wie von einer Droge befreien zu müssen glaubte, ist mir die Philosophie längst zu einem routinierten Denkgeschäft geworden. Existierte nicht ein Rest an selbstdarstellerischer Lust, vor den Studenten mit allerlei geistesgeschichtlichen Verweisen zu brillieren, gäbe es vielleicht keinen einzigen Grund mehr, mich mit den immer ähnlichen Fragen und Antworten zu beschäftigen, die als Fußnoten zu Platon ganze Bibliotheken füllen.
Steigerung bis zum Unausweichlichen
Dass wir als Lesende diesen gelegentlich besessenen Ex-Musiker fast von Anfang an als skrupellosen Widerling empfinden und nach und nach den Wunsch verspüren, ihn aus der Wohnung zu werfen und ihm einen Tritt zu verpassen, ist die Finte des Textes, aber auch der Punkt, an dem es dem Roman gelingt, den Leser zu überführen, um ihm dann umso deutlicher bewusst zu machen, was das Gewaltpotenzial und die Grausamkeit der Ereignisse wachsen lässt: nichts weniger nämlich als die ganz unspektakulären, schwer angreifbaren sozialen Konstellationen und Szenarien.
Die Figuren des Textes sind einfach nur "ganz normale", mittelmäßige und durchaus prestigeträchtige Zeitgenossen, von denen einer quasi im Vorbeigehen zum Mörder wird, noch dazu mit einem Spinoza-Zitat im Rucksack:
Wer klar einsähe, dass er auf dem Weg des Verbrechens besser sein Leben und Wesen genießen könnte als auf dem Weg der Tugend, wäre dumm, wenn er es nicht täte.
Beklemmender Text
Das Beklemmende, das die Lektüre des Textes hinterlässt, ist seine große Leistung. Es ist ebenso schwer zu verorten und zu benennen wie das Abgründige und Gewaltvolle einer kultivierten (sozialen) Welt, deren Akteure über jede Menge philosophischer oder psychologischer Weisheiten verfügen, ohne sich von diesen aus dem Paradies eines satten, bequemen und unauffälligen Alltags vertreiben zu lassen.
Buch-Tipp
Karl-Heinz Ott, "Endlich Stille", Verlag Hoffmann und Campe, ISBN 3455058302