Erinnerungen von Irene Hammermüller
1945 - Die Reise ins Paradies
Im Rahmen des Themenschwerpunkts Österreich 2005 hat Ö1 in einer Kooperation mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien mehrere Sendungen konzipiert. Den Auftakt bildet die Ö1 Reihe "Moment - Leben heute".
8. April 2017, 21:58
Die Sonne scheint herrlich, die an den Fenstern des Zuges vorbeiziehenden Wälder beginnen sich zu färben, einzelne Bäume stechen goldgelb und blutrot aus dem Grün des Waldes. Die Reise mit dem voll klimatisierten Zug, bequem gepolstert, mit großen Fenstern und mitfahrendem Speisewagen ist heute ein Vergnügen. Ich reise wieder einmal, wie sehr oft in den vergangenen fast 56 Jahren, in die Vergangenheit.
Ganz anders war diese Reise vor fast 56 Jahren, nämlich im November 1946, eineinhalb Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, für mich, ein Kind aus dem zerbombten Wien. Einer Stadt, die großteils zerstört war, es gab nichts zum Heizen, nichts zu essen, wir Kinder waren alle traumatisiert, hatten Hunger, und wir froren. Da die Versorgung mit Lebensmitteln immer schlechter wurde, brachte Mutter meinen kleinen Bruder zur Großmutter ins Burgenland, wo er bis zum Schulbeginn drei Jahre später, sehr oft und gerne war.
Fritz war also bei Oma versorgt, und da war etwas für mich Wunderbares aufgetaucht. Es gab für Kinder die Möglichkeit, zum Aufpäppeln für drei Monate in die Schweiz zu fahren und sich dort von den Kriegswirren zu erholen. Mutter setzte alles in Bewegung, dass ich mitfahren durfte, obwohl ich noch nicht fünf Jahre alt war. Ende 1946, knapp vor Weihnachten, war es dann so weit. Mutter nähte aus einem alten Umhang noch einen warmen Mantel für mich, damit ich im Zug nicht frieren müsste, packte die vorgeschriebenen Sachen ein, soweit sie eben vorhanden waren, hängte mir die Erkennungsmarke um, und nun war ich auf dem Weg ins gelobte Land.
Ich denke heute oft daran zurück, was eine Mutter wohl durchmachen musste, um ihr noch nicht fünfjähriges Mädchen in der Not, das Kind nicht ernähren zu können, in die Fremde zu schicken, zu Menschen, die sie nicht kannte, nicht wissend, wie es dem Kind ergehen würde, wo es sein würde!
Der Zug, mit dem ich diese lange Reise antrat, fuhr Ende November 1946 von Wien ab. Zu dieser Zeit war Österreich in vier Besatzungszonen zwischen Russen, Franzosen, Engländern und Amerikanern aufgeteilt. Wir mussten endlose Grenzformalitäten über uns ergehen lassen, vor allem an der Grenze zwischen Nieder- und Oberösterreich, die von den Russen besetzt war. An die lange Reise selbst kann ich mich nicht wirklich erinnern; ich weiß nur noch, dass wir auf den Bahnhöfen oft mit Musik begrüßt wurden und dass wir einen Becher heißen Tee oder heiße Suppe bekamen. Auf der Brücke über die Enns, das war die Demarkationslinie, standen wir stundenlang. Die Russen wollten uns nicht ausreisen lassen.
Im Zugabteil mit Holzbänken, ohne wirkliche Heizung, waren sehr viele Kinder. Wir schliefen nachts auf dem mit Papier ausgelegten Boden; auf den Bänken und auch im Gepäcksnetz schliefen einige Kinder. Im Zug fuhren Betreuerinnen und Betreuer aus der Schweiz mit; auch zu essen gab es durch das Hilfswerk des Schweizer Roten Kreuzes.
Am Ende dieser langen Reise, ich glaube zwei bis drei Tage hat sie schon gedauert, kamen wir endlich in Buchs an. Dort nahmen uns Schwestern vom Roten Kreuz in Empfang, und wir wurden zuerst gelabt mit heißer Ovomaltine - die ich natürlich noch nicht kannte. Es gab frisches, wunderbar schmeckendes Brot, eine Banane und Schokolade.
Nach einer Desinfektion mit anschließender heißer Dusche - das weiß ich allerdings nur aus Erzählungen, ich selbst erinnere mich nicht mehr daran - konnten wir einmal ausschlafen.
Am nächsten Morgen wurden wir wieder in einen Zug gesetzt und an unseren Bestimmungsort gebracht. Ich war für den Kanton St. Gallen bestimmt und nach Mörschwil unterwegs. Das Kärtchen, das wir um den Hals hatten, war mit meinem Namen, meiner Heimatadresse und dem Ort und der Familie, die mich aufnehmen würde, versehen. (...)
Der Empfang, der mir bereitet wurde, war sehr liebevoll und fürsorglich. Ich erinnere mich wieder nicht sehr gut, aber ich weiß, dass ich keine Angst hatte und mich sehr schnell wohl fühlte. Mama und Papa Füger, so durfte ich sie nun nennen, waren mir ein wunderbares Elternpaar. Ich war das Nesthäkchen, und das bei fünf erwachsenen Kindern: Theres, Beda, Päuli, Sepp und Anni. Ich gewann sie sehr schnell lieb, und das hält bis heute an.
Mama war eine etwas strenge Frau, aber sehr liebevoll zu mir. Sie gewann mich sicherlich fast so schnell lieb wie ich sie. Ich bewunderte ihre Schönheit, das schwarze Haar trug sie zu einem Zopf geflochten und im Nacken zu einem Knoten aufgesteckt. Papa, ein gemütlicher, rundlicher, immer gut gelaunter Vater, ein Bäcker durch und durch; er liebte seinen Beruf.
Am ersten Abend steckten sie mich in ein Gitterbett - ich war das Gitter aber nicht gewöhnt. Anni erzählte mir später, ich hätte geweint und geschrieen: "Weg da, weg da!" Ich fürchtete mich sehr davor. Aber nach dem Herunterklappen des Gitters schlief ich bald ein.
Später erfuhr ich, dass Frau Studach, eine Frau, die auch in Mörschwil wohnte, meine Pflegeeltern gefragt hatte, ob sie nicht ein armes Kind aus Österreich für drei Monate aufnehmen könnten. Nach einigen Überlegungen hatten sie dann, Gott sei Dank, zugestimmt - was wäre aus mir geworden, wenn ich sie alle nie kennen gelernt hätte?
Das Schrecklichste war für mich sicher, dass ich kein Wort Schwyzerdütsch verstand. Ich ging ja noch nicht zur Schule, konnte also auch nicht Hochdeutsch, sondern sprach wienerisch.
Das gab sich allerdings bald. Ich lernte sehr schnell, und nach einigen Tagen begann ich mich schon mit der ganzen Familie, mit den Kindern auf dem Kirchplatz vor dem Haus, mit den Gästen im Gasthaus auf Schwyzerdütsch zu unterhalten. Mama erzählte mir immer, wie schnell ich diese doch schwierige Sprache gelernt habe. Es gefiel mir hier sehr gut, zu gut - ich war im Nu kein "Wienerli" mehr, sondern ein Schweizerkind geworden.
Die ganze Familie verwöhnte mich. Am Morgen nach dem Aufstehen - ich durfte immer so lange schlafen, wie ich wollte - saß ich in der Backstube, die zugleich auch die Küche war, an einem langen Holztisch, trank Ovomaltine, die mir einfach wunderbar schmeckte. Ich konnte auswählen, ob ich zum "Z'Morgen", also zum Frühstück, ein "Wiessbrötli", "Weggli", einen "Einback", oder gar einen "Gipfel" essen wollte. Schwarzes Brot aß ich erst, als ich schon älter geworden war. Dazu gab es frische Butter, "Comfi", das ist Marmelade, Honig. Ich war im Schlaraffenland gelandet!
Ich durfte in der Bäckerei, der Konditorei mithelfen, zusehen, naschen, probieren und alles essen, was ich nur wollte. Heute noch weckt der Geruch einer Bäckerei, wenn ich an einer vorbeigehe, das Gefühl der Geborgenheit und Wärme in mir. (...)
Die ersten drei Monate vergingen wie im Flug. Mama hörte von einer Möglichkeit, mich nochmals drei Monate zu behalten. Ich wurde untersucht, für zu leicht befunden (ich hatte noch zu wenig zugenommen), und durfte daher nochmals drei Monate bleiben. Meine Mutter aus Wien hatte zugestimmt, und so blieb ich also in Mörschwil.
Im Frühling lernte ich die Umgebung des Dorfes kennen. Mama fuhr mit mir und mit Anni auf einen Ausflug mit dem Schiff auf dem Bodensee. Es war ein Erlebnis: so ein großer See, das schöne Schiff, und ich, die kleine Irene aus dem zerbombten Wien, mitten auf dem See. Ich war einfach glücklich!
Ostern - in Wien gab es nicht einmal ein Osterei. Hier bekam ich einen ganzen Korb voller Schokoladehasen, Schokoladeeier, gefärbte Eier, Malbuch und Buntstifte.
Manchmal durfte ich mit Beda mit dem DKW-Lieferwagen, es war ein kleiner Kastenwagen, in dem das Brot ausgeführt wurde, mitfahren und manchen Kundschaften das Brot bringen. Ich fuhr gerne mit, es gab immer etwas zu naschen im Auto, die Kunden waren alle so nett und lieb zu mir, es gab sogar manchmal ein paar Rappen als Trinkgeld, die ich natürlich ins "Kässeli" warf und für Wien aufsparte.
Bevor ich wieder nach Hause, nach Wien, musste, wurde noch viel genäht, gestrickt und gekauft. Ich bekam sogar neue Schuhe. Päuli, Anni und ich fuhren mit der Bahn nach St. Gallen. Es war so aufregend für mich: die vielen schönen Geschäfte, in den Auslagen wunderbare Kleider, Schuhe, Lebensmittel, Spielsachen, Bücher zu sehen.
Der Schuhkauf war besonders aufregend, ich durfte die Schuhe selbst aussuchen und probierte alle, die mir gefielen, und das waren nicht wenige! Dann gingen wir noch in ein Kafi - ein Kaffeehaus - um dort ein Z'Vieri zu genießen.
Nun nahte das Ende meines Aufenthaltes aber schon mit Riesenschritten. Die neuen Kleider wurden alle in meinen Rucksack und in eine Schachtel verpackt. Am Tag meiner Abreise durfte ich die neuen Schuhe gleich anziehen, bekam am Morgen nach dem Frühstück die Erkennungsmarke umgehängt und musste weinend und traurig ins Auto einsteigen.
Meine Heimfahrt nach Wien habe ich völlig verdrängt, ich kann mich an nichts mehr erinnern, nicht einmal ans Heimkommen, an meine Mutter oder meinen Bruder. Fritz sprach eine völlig fremde Sprache für mich. Er erzählte von Oma, was er alles erlebt hatte, aber eben im heanzisch-burgenländischen Dialekt. "Schurln" habe er bei Oma im Hof können. Ich wusste natürlich nicht, was das war. Mutti sagte es mir: Schaukeln. Für mich als "Schweizerkind" hieß das aber "gireize"! Solche fremde Ausdrücke gab es natürlich haufenweise, von ihm und von mir. Mama spielte immer wieder Dolmetsch und versuchte zu vermitteln. Wie sollten wir beide uns jemals wieder verstehen können?
Nach ein paar - für mich traurigen - Wochen zu Hause, flatterte ein Brief mit einer neuerlichen Einladung, wieder nach Mörschwil zu kommen, ins Haus. Ich war überglücklich, Wien war mir fast fremd geworden. Mein Bruder Fritz sprach einen fürchterlichen burgenländischen Dialekt, die Wohnung war ausgebombt, noch kaum renoviert, und es gab auch familiäre Schwierigkeiten. Meine Mutter ließ sich scheiden und hatte einen neuen Lebensgefährten gefunden. Ich fühlte mich nicht mehr wohl in Wien und wollte nur wieder wegfahren. Meine Pflegeeltern in Mörschwil schickten Mutter das Geld, um meine Reise bezahlen zu können und so durfte ich wieder in mein "Paradies" fahren.
Irene Hammermüller wurde 1942 in Wien geboren. Aufgrund der Kriegsereignisse und der schwierigen materiellen Situation konnten sie und ihr um eineinhalb Jahre jüngerer Halbbruder Friedrich nicht ständig bei ihrer Mutter aufwachsen. Während ihr Bruder längere Zeit bei Verwandten im Burgenland verbrachte, erwies sich für Irene die Kinderverschickung des Roten Kreuzes in die Schweiz als das "große Los". Ihr lebensgeschichtliches Manuskript entstand im Oktober 2003 während einer Zugsfahrt in die Schweiz und ist ihren drei noch lebenden Ziehgeschwistern gewidmet, zu denen sie bis heute engen Kontakt hält.
Tipp
Wenn Sie selbst Erinnerungen zum Thema dokumentieren möchten, oder jemanden kennen, der dies tun möchte, so wenden Sie sich bitte an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, die solche schriftlichen Geschichtszeugnisse in ihrem Archiv sammelt und wissenschaftlich aufarbeitet. Zu erreichen unter der Wiener Telefonnummer 04277/41306 bzw. per E-Mail.
Buch-Tipp
Anton Partl, Walter Pohl, "Verschickt in die Schweiz. Kriegskinder entdecken eine bessere Welt", Böhlau Verag, ISBN 3205774264
Link
Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen