Erinnerungen von Zeitzeugen

1945 - Warum schreiben?

Im Rahmen des Themenschwerpunkts Österreich 2005 hat Ö1 in einer Kooperation mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien mehrere Sendungen konzipiert. Den Auftakt bildet die Ö1 Reihe "Moment - Leben heute".

Seit zwei Jahrzehnten sammelt die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien autobiografische Erinnerungen und arbeitet diese wissenschaftlich auf. Hier einige Geschichtszeugnisse, die Einblick gewähren, wie und warum folgende Zeitzeugen zum Festhalten und Niederschreiben ihrer Vergangenheit kamen.

"Die vielen Lügen, die man erzählt der Jugend ..."

Ich persönlich habe in meinem Leben immer geschrieben, und das kam, glaube ich, daher, weil ich als Kind und eigentlich bis heute seelisch sehr einsam war und bin. Papier ist geduldig, sagte man in meiner Kindheit. Und dies kann ich aus Erfahrung nur bestätigen. Also, wenn ich Dresch bekam - als Kind verteidigen konnte ich mich nicht -, kritzelte ich meine seelische Verfassung auf ein Papierl. Als Kindergartenkind zeichnete ich zuerst. Als ich schreiben konnte, waren es Worte, gute und böse Gedanken, ein Gebet wechselte mit einem Liedfetzen. Wenn das Geschriebene mir nicht gefiel, zerriss ich den Zettel in ganz kleine Fuzerl, warf sie in den Ofen, wenn gekocht wurde. Im Sommer saß ich aber trotz Verbot gerne am Rand des Baches, warf die Fuzerl ins Wasser und schaute ihnen nach.

Als ich größer wurde, waren die Probleme größer geworden. Aber ich schrieb. Mein Leben war eine Katastrophe. Als Kind musste ich büßen für die Fehler der Erwachsenen. Dann kam die Politik mit ihrem schlechten Ende Krieg. Und heute sind es die vielen Lügen, die man erzählt der Jugend. Es lässt mich schreiben.

Ernestine Hieger

"Es lohnt sich in den Archiven der Erinnerung zu kramen ..."

Da über unsere Ahnen weiter nichts in Erfahrung zu bringen war, machte ich mich frischen Mutes daran, die Geschichte meiner Eltern zu erzählen. Da ich mich dabei auf meine eigene Erinnerung stützen zu können glaubte, schien mir das einfach genug zu sein. Dem ist aber nicht so. Ich musste erfahren, dass ich mich auf mein Gedächtnis keineswegs verlassen kann. Vieles habe ich vergessen, anderes unrichtig behalten, den Geschwistern erging es ähnlich. Sogar über das Todesjahr der Mutter gab es Debatten. Nur Belanglosigkeiten waren uns in Erinnerung geblieben, z. B. dass sich unser Cousin Hugo mit dem Ellbogen in Powidl gestützt hat (er selbst kann sich dessen nicht entsinnen).

Nach und nach förderte ich weitere Momentaufnahmen zu Tage. Zum Schluss habe ich das meiste doch nicht verwendet. Aber es lohnt sich, in den Archiven der Erinnerung zu kramen, man erfährt viel Unbekanntes über sich selbst. Man kann einen Dialog mit sich selbst führen. Dazu lässt man eine Frage wie einen Stein ins Innere plumpsen und wartet. Die Frage rührt in immer weiteren Kreisen die Tiefen auf und nach einer Zeit, manchmal Stunden, mitunter Tage oder Wochen, kommt etwas wie eine Antwort herauf. Man betrachtet das Gefundene, erstaunt, erkennt es oft kaum. Eines ist mir klar geworden: Die Gegenwart hat keine Aussage für uns, wir leben in der Vergangenheit. Die Wertung erfolgt später, unbeeinflusst von unserem Wollen. Ob es uns passt oder nicht, wir müssen die Antwort akzeptieren, es ist die Summe unserer bisherigen Erfahrungen. Ist es deshalb die Wahrheit - oder doch nicht?

Wenn ich von früheren Zeiten erzählen werde, etwa von unserer Kindheit, wird und kann es kein authentischer Bericht mehr sein. Die Zeit und meine späteren Erfahrungen haben eine andere Realität geschaffen. Darum können diese Aufzeichnungen nur eine Sicht aus meiner Perspektive sein. Wie sehr ich mich auch bemühe, hinter den Ereignissen zurückzustehen, Personen und Handlungen erscheinen doch nur so wie, ich sie sah. Trotzdem will ich immerhin versuchen, ein wahrheitsgetreuer Chronist zu sein. Aber die Geschichte, ich fühle es, entgleitet mir und beginnt ein Leben nach eigenen Gesetzen. Dazu kommt, dass ich sie in die Form gieße. Aus tausend Worten habe ich diese gewählt, die meinen Stil prägen. Darum ist es meine Geschichte und könnte nicht von meinem Bruder sein. Wenn zwei Menschen am gleichen Ort die gleichen Erlebnisse haben, sind die Erfahrungswerte für sie ganz verschieden. Denn es gibt keine zwei selben Menschen, das hat der liebe Gott nicht nötig.

Adolfine Schumann

"Brauche ich die Begegnungen nicht mehr zu fürchten ..."

Unsere Nachbarin lernte ich kennen durch Klagen und wieder Klagen. Wie Spinnweben umgaben sie mich und doch konnte ich mich nicht ganz entziehen ... Ihre Klagen häuften sich, ihre Tränen nässten ihr verbittertes Gesicht. Und am Sonntag der Gedanke, wir nehmen sie mit zur Kirche und dann fällt wieder etwas von dieser Bitterkeit über uns. Samstagnachmittags versuchte sie, sich zu mir vors Haus zu setzen. Oh, es war mir so lästig, ich gebe das zu. Aber ich konnte sie und durfte sie nicht abschütteln. Und ich verglich mein Leben, an dem ich so manches herumzujammern hatte, und das Leben von Frau S., und da stellte ich fest, wie begünstigt vom Schicksal ich von Anfang an gewesen bin, und schämte mich. Von da an begegnete ich Frau S. anders. Ich versuchte immer, das Gespräch nicht von ihrer Vergangenheit abzulenken, sondern ich versuchte, mit gezielten Fragen aus ihr das Bedrückende, das Belastende herauszuholen. Ich dachte, wenn sie viel darüber reden kann, wenn sie es mir schildert, wenn sie dazu heult, vielleicht wird es doch eines Tages leichter werden. Schließlich kam mir der Gedanke, ihr anzubieten, dass wir es gemeinsam aufschreiben würden. Schwarz auf weiß sollte es auf Papier kommen. Damit sie es los hat! Weg! Und damit es erhalten bleibt. Mir erschien dieses Leben mit aller kolossalen Härte auch irgendwie so großartig, so einmalig, dass ich begann, mit ihr darüber zu reden. Ihre Schwiegertöchter mit Wohlstand, Waschmaschinen, Autos und dergleichen können nämlich für das Leben dieser Frau kein Verständnis aufbringen. Geht auch nicht. Frau S. leidet darunter, dass ihr die Zeit Mühsal aufgebürdet hat und keine Entlastung. Na ja, und ich dachte mir, wenn es auch nie geschehen wird, dass es mir gelingt, diese Lebensgeschichte an die Öffentlichkeit zu bringen und der Nachwelt zu erhalten, hat es eine ganz wichtige Erleichterung für die Betroffene gegeben.

Es ist eigentlich nicht erstaunlich, dass - nachdem die Niederschrift erfolgte und wir gemeinsam immer wieder über die Vergangenheit der Ottilie S. gesprochen haben - auf einmal eine Wende eingetreten ist. Heute brauche ich die Begegnungen nicht mehr zu fürchten, sie sind nicht mehr unangenehm sondern erfreulich. Eines Menschen Angesicht hat sich von innen her gewandelt und verschönt. Unglaublich. Wie kann sie jetzt lachen!

Anonymer Erfahrungsbericht

"Vielleicht wird mir dann etwas leichter ..."

Ursprünglich habe ich ja nicht geplant, die Geschichte meines ganzen Lebens schriftlich niederzulegen. Ich wollte mir lediglich das von der Seele schreiben, was ich so denke und fühle. Die Zustände im Österreich des Jahres 1989 sind nicht dazu angetan (zumindest für mich als Juden), unbändige Freude zu empfinden.

Dann aber hat mich meine Frau Lilly bekniet, ich möge doch die gesamte Geschichte meines notgedrungen bunten Lebens zu Papier bringen. Sie ist der Ansicht, all das, was ich erlebt habe, sei bestimmt interessant und stelle eine Geschichte des 20. Jahrhunderts aus dem Blickwinkel des kleinen Mannes dar.

Ich muss ihr zustimmen. Ich selbst habe nie die Möglichkeit gehabt, den Ablauf des Geschehens zu beeinflussen. Als kleiner Mann habe ich nie daran gedacht. Dazu kommt noch, dass ich, der ich doch bestimmt alles andere als ein Abenteurer bin, in fast alle Fettnäpfchen getreten bin, die mir im Wege standen. Was mir da nicht alles geschehen ist! (...)

Ich zweifle stark daran, dass dieses Manuskript je das Licht der Öffentlichkeit erblicken, das heißt, dass ein Buchverlag sich seiner pfleglich annehmen wird. Ich habe bestimmt schon Besseres geschrieben, und trotzdem modert alles in der Schreibtischlade. Warum sollte es also diesmal anders sein? Was mich aber trotzdem dazu bewegt, dem geduldigen Papier meine Gedanken anzuvertrauen, ist nur damit zu erklären, dass ich mir einfach einiges von der Seele schreiben muss. Zu viel hat sich in mir angehäuft, was ich loswerden muss; vielleicht wird mir dann etwas leichter. (...)

Besonders rege ich mich auf, wenn ich bemerke, dass jemand ostentativ versucht, von der Vergangenheit überhaupt nichts zu wissen, und sich erstaunt darüber zeigt, wenn man ihn mit nicht hinweg zu leugnenden Relikten aus jener "großen Zeit" konfrontiert. Oder tritt hier vielleicht ein kollektiver Verdrängungsmechanismus hervor? Ein Beispiel möge das erläutern:

Meinen linken Unterarm "schmückt" die Auschwitzer Tätowierung, Nr. 178458. Ich denke meistens überhaupt nicht mehr daran und trage, speziell im Sommer, Buschhemden mit kurzen Ärmeln, so dass also die Nummer deutlich sichtbar ist. Nun soll mir einer sagen, dass das Faktum der Zwangstätowierung hierzulande nicht bekannt ist! Seit es ein Fernsehen gibt, werden auf dem Bildschirm diese Nummern vorgezeigt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass das, speziell von älteren Mitbürgern, nicht gesehen wurde.

Immer wieder aber kommt es vor, dass sich mir ein freundlicher Österreicher nähert und fragt: "Sagen S’ einmal, was is denn das für a Nummer? Ist das vielleicht die Nummer der Einheit, bei der Sie gedient hab’n?" Was soll ich mit so einem Menschen anfangen? Meistens ziehe ich mich mit einem Spaß aus der Affäre und sage ihm: "Wissen Sie, das ist meine Telefonnummer. Ich bin derart vergesslich, dass ich sie mir, wenn ich einmal zu Hause anrufen soll, ansehen kann."

Natürlich glaubt man mir das nicht sehr, und so rücke ich dann nolens volens mit der Erklärung heraus. Zuerst betretenes Schweigen, dann aber kommt die unvermeidliche Frage: "Warum lassen S’ Ihnen denn das net herausschneiden?" So einem Kerl möchte ich gerne einen Tritt in den Unterleib versetzen. Aber wenn ich dies täte, würde er mich vor den Kadi zitieren lassen, und ich bekäme bestimmt eine saftige Strafe aufgebrummt. Bestenfalls würde man mich wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit zu einer bedingten Strafe verurteilen. (...)

Manchesmal frage ich mich wirklich selber, warum ich mir die Nummer nicht doch operativ entfernen lassen sollte. Aber dann denke ich mir: "Nein, das wäre das Verkehrteste!" Ich habe im Leben die Aufgabe, als das schlechte Gewissen der Menschen zu fungieren, und dieser Aufgabe werde ich bis zum letzten Atemzug nachkommen."

Eine positive Erfahrung habe ich auf diesem Gebiet gemacht, leider aber nicht mit vergesslichen Österreichern, sondern mit Bundesdeutschen. Auf einem Campingplatz in der Schweiz sprach mich eine ältere Dame an, deren Diktion nicht nur die deutsche, sondern auch die bürgerliche Herkunft verriet. Als sie der Nummer ansichtig wurde, kam sie auf mich zu und sagte leise: "Ich bin Deutsche und mein Mann ist früher Berufsoffizier gewesen. Bitte, haben wir das angerichtet?" Als ich bejahte, sagte sie nur still: "So eine Schande!", grüßte höflich und zog sich schweigend zurück. Dieses Schweigen hat mir mehr gegeben als eine lange Bedauerungsrede.

Fritz Roubicek

Tipp
Wenn Sie selbst Erinnerungen zum Thema dokumentieren möchten, oder jemanden kennen, der dies tun möchte, so wenden Sie sich bitte an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, die solche schriftlichen Geschichtszeugnisse in ihrem Archiv sammelt und wissenschaftlich aufarbeitet. Zu erreichen unter der Wiener Telefonnummer 04277/41306.

Buch-Tipp
"Kreuztragen. Drei Frauenleben", Wien-Köln-Weimar 1997, ISBN 3205061519

Link
Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen