Erinnerungen von Josefa Paul

1945 - Die Annäherung

Im Rahmen des Themenschwerpunkts Österreich 2005 hat Ö1 in einer Kooperation mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien mehrere Sendungen konzipiert. Den Auftakt bildet die Ö1 Reihe "Moment - Leben heute".

Am letzten Abend, vor der Fahrt in die Gefangenschaft, ging ich mit Hilde, Hanna und Berta hinunter ins Dorf. Es lag zirka eine halbe Stunde in einem Talkessel. In der Kneipe war ein Betrieb, was ich, obwohl vom Gastgewerbe einiges gewohnt, noch nicht erlebt hatte. Soldaten, Soldaten, Soldaten (...) und mitten drin in diesem Tumult wir Mädchen von der Deutschen Wehrmacht.

Die Amis hatten uns sofort erkannt, salutierten und nahmen uns in ihre Mitte. Drückten uns ein Glas Wein in die Hand und prosteten uns zu. Auf engsten Raum zusammengepfercht standen deutsche Landser in allen Waffenfarben, Alliierte in allen Chargen. Aus allen Richtungen wurden uns Küsse zugeworfen und begeis-terte Viva-Rufe. Da kamen auf einen deutschen Landser mindestens zwei, wenn nicht gar drei alliierte Militärpolizisten. Sie stiegen auf die Bänke, um einen besseren Überblick zu haben. (...) Ein Chaos sondergleichen. Wie alle Tage und Jahre vorher, erklang Punkt zehn Uhr im Radio die Lili Marleen. Wie auf Kommando sangen alle im Lokal Anwesenden das Lied in ihrer Sprache. Eine Geplärre zum Ohren-Zuhalten. Der Wein tat das seine noch dazu. Die Soldaten umarmten sich, drehten sich stampfend im Kreis, zu zweit, zu dritt und zu viert. Ob Freund, ob Feind - in dieser Minute waren alle nur Menschen. Tobten, sangen und tranken. Setzten die Flasche an den Mund und ließen sie dort leer laufen. Ganz egal, ob die Flüssigkeit nach innen rann oder nach außen. Die allgemeine Verbrüderung war voll im Gange. Zwischen uns Nachrich-tenhelferinnen drängten sich bayrische Gebirgsjäger sowie blutjunge rotblonde Amis. Jeder hielt einen Chianti in der Hand, redete, auch wenn er keinen Zuhörer hatte, und feierte den Frieden auf seine Art. Die Luft in der überfüllten Wirtschaft zum Schneiden dick, der Rauch ätzend, der Lärm ohrenbetäubend. Und der Wirt machte das Geschäft seines Lebens. (...)

Die darauf folgenden sechs Monate verbrachte Josefa Paul in mehreren Kriegsgefangenenlagern der Alliierten. Vom Lager Hafendorf nahe Kapfenberg in der Steiermark wird sie Ende Oktober 1945 entlassen.

Endlich wurde ich vom Lautsprecher aufgefordert, in die Abfertigungshalle zu kommen. Dort bekam ich meine Entlassungspapiere und 40 Mark Verpflegungs-geld für die Heimfahrt. Ein Laster brachte mich mit vielen Mitentlassenen zum Bahnhof nach Bruck an der Mur. Von dort ging es weiter nach Graz. In Graz regnete es in Strömen. Alle flüchteten in den provisorischen Warteraum. Der Hauptbahnhof war total verwüstet. Der Warteraum an einer Seite mit einer Bretterwand verschlagen und ein Notdach darüber. Eine elektrische Funzel hing an einen Balken und spendete spärliches Licht. In der Mitte des Raumes stand ein uralter Ei-senofen, schön warm eingeheizt. Bei dem Regenwetter eine wunderbare Wohltat. Auf dem Boden neben meinen Rucksack sitzend, verbrachte ich die Nacht. Als gegen Morgen einmal ein Eisenbahner herein kam, fragte ich ihn, wann ich einen Zug in die äußerste Oststeiermark hätte. Er sah mich blöd an und fragte mich, ob ich einen Kopfschuss hätte. "Um acht hast einen bis Gleisdorf. Dann ist es aus mit der Herrlichkeit.“ In Gleisdorf hatte der Regen aufgehört und ich machte mich auf Schusters Rappen auf den Weg.

Anfangs schritt ich ganz munter dahin. Ich wollte ja so schnell wie möglich daheim sein. Beide Hände in den Trägerschlaufen trabte ich dahin. Gasmaske und Menageschale hatte ich schon längst irgendwo liegen gelassen. Nur die Feldflasche hatte ich noch in Gebrauch. Früher hatte ich sie ständig mit Tee gefüllt, später mit ste-rilem Wasser. In Hafendorf hatte ich sie zum letzten Mal mit Wasser gefüllt und in eine Außentasche vom Rucksack gesteckt. Ebenso den Brotbeutel. Nur leider war er in letzter Zeit meist leer. Am Nachmittag holte mich ein Mann ein. Er ging wesentlich schneller als ich. Er grüßte mich freundlich und fragte mich, ob ich denn schon lange unterwegs sei, weil ich so müde daherhatsche. "Wie man es nimmt. Von Gleisdorf komme ich zu Fuß. Und ich habe halt gar keine Kondition in meinen Wadeln. Weißt, ich bin das Gehen nicht gewohnt.“ - "Komm, gib mir deinen Rucksack. Ich trag ihn dir ein Stück. Wir haben vorläufig den gleichen Weg. Ich muss hinaus in die Pöllauer Gegend, und weil es kein Fahrzeug gibt, bin ich auch zu Fuß unterwegs.“ - "Das ist sehr lieb von dir, wenn du mir helfen willst. Aber du kennst mich doch gar nicht.“ - "Nein, aber ich weiß wo du herkommst. Ich war bei der Luftwaffe und hatte viel mit den Mädchen zu tun. Sie waren alle prima Kumpels.“ - "Ich war beim Heer im Funkverkehr.“ - "Ich weiß, ich kenne die Uniform.“

In seinen Steirerjanker mit weißem Hemd, Lederhose und weißen Stutzen sah er blendend aus und war etwa um die Dreißig. Er nahm mich bei der Hand und führte mich wie ein kleines Kind. Er erzählte, dass er Glück gehabt hatte und gleich nach Kriegsschluss heimkam. Es waren noch die Russen da, und er musste sich ununterbrochen verstecken. Leute, die uns begegneten, glaubten wohl, wir wären ein Liebespärchen, weil wir so selbstvergessen auf der Straße dahinwandelten. Dann wollte er wissen, wo ich solange gesteckt wäre. Ich sagte bei den Amis. Die gingen auf Nummer Sicher. Und da die Steiermark so lange besetzt war, zog sich die Entlassung halt in die Länge. "Aber nun bin ich ja bald daheim. Ich freue mich schon.“ "Wie weit hast denn noch?“ "Na, bis ans äußerste Zipfel von der Oststeiermark“, sagte ich und setzte den Namen meiner Heimatstadt hinten dran. "Was, und da meinst du, du bist bald daheim? Du bist gut. Da brauchst mindestens zwei Tage.“ - "Macht nichts. Und wenn es drei sind, ist es mir auch schon wurscht.“ Er lachte und sagte, ich hätte bis Birkfeld fahren können. Diese Bahnstrecke sei in Ordnung. Und von dort über Vorau. Da hätte ich viel näher gehabt. "Das habe ich nicht gewusst. Es hat mir auch niemand etwas gesagt. Weißt, ich muss mich erst wieder an die Freiheit gewöhnen. Momentan bin ich blöd wie eine Kuh vor einen neuem Tor.“ - "Wie kannst du nur so etwas sagen?“ - "Weil ich manchmal so was Dummes frage, dass man mich auslacht. Ein Grazer Eisenbahner hat mich gefragt, ob ich einen Kopfschuss hätte, nur weil ich nach einen Zug gefragt habe.“

Plötzlich blieb er stehen und drehte sich mir zu. Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns befanden. Die Straße war menschenleer. Nicht einmal ein Ochsengespann war zu sehen. "Sag einmal, wann hast denn das letzte Mal was gegessen? Ehrlich!“ sagte er mit Nachdruck. "Gestern Mittag. Am Abend war ich schon in Graz und heute Morgen fuhr ich nach Gleisdorf. Seither bin ich unterwegs.“ - "Und warum hast dir nichts gekauft?“ - "Ja warum? Ehrlich! Ich habe den Umgang mit Geld verloren. Bei der Entlassung bekam ich 40 Mark. Bei den Alliierten gab es kein Geld, und vorher habe ich mit Lire gehandelt. Ich muss mich erst wieder zurechtfinden. Jetzt siehst selber, wie blöd ich bin. Und irgendwo muss ich ja auch übernachten. Da brauche ich ja auch was. Ich habe ja keine Ahnung, was das kostet.“ - "Du bist ein Kindskopf. Heimkehrer werden überall gerne aufgenommen. Die brauchen nichts zahlen. Und beim nächsten Bauern gehe ich hinein und bitte um ein Stück Brot.“ - "Aber bitte nicht für mich. Wenn ich eines will, gehe ich selber. Bis jetzt habe ich meine Angelegenheiten immer selber erledigt. Für dich, das ist mir egal. Aber nicht für mich.“ Er ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Beim nächsten Bauern trat er ein.

"Keine Widerrede. Versprich mir, dass du da wartest, bis ich wieder da bin. Sonst nehme ich deinen Rucksack mit hinein.“ - "Versprochen!“ Und wie zum Schwur erhob ich die Hand. (...) Mein Begleiter, ein charmanter Gesellschafter und äußerst korrekt, nahm den Rucksack von seinen Rücken und stellte ihn mir vor die Füße. Ich sah ihm nach bis er in der Eingangstür verschwunden war. Während ich so dastand und wartete, dachte ich, ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal um Brot betteln müsste. Zwar tat es der junge Mann für mich, aber trotzdem. Endlich hörte ich Stimmen. In jeder Hand ein Butterbrot trat mir der Mann entgegen. Hinter ihm eine Frau. Ich glaube es war die Bäuerin. Als sie sah, dass mir der Mann ein Butterbrot gab, fing sie an zu keifen. "Was“, schrie sie, "für so eine Flitschen hast du von mir Brot verlangt? Wenn ich das gewusst hätte, wäre mir kein schwarzes Krümel ausgekommen. Du hast gesagt, es wäre für einen Kumpel. Du miserabler Lugenschippl, du hundsgemeiner!“ Dann kam ich an die Reihe. "Und du, du schamloses Luder, du geh lieber was arbeiten, als mit einen Kerl herumhuren.“

Meine Augen schossen Blitze. Mein Mund war ein schmaler Strich. Ich war im Begriff mein soeben erhaltenes Butterbrot ihr vor die Füße zu werfen. In diesen Augenblick nahm mich der Mann bei der Hand und zog mich fort. "Komm her und iss es! Brot ist viel zu kostbar, um es ihr hinzuwerfen“, sagte er liebevoll und legte den Arm um meine Schultern. "Sie weiß ja nicht, was sie sagt.“ Er griff nach meinen Rucksack und hängte ihn über. "Ich weiß genau, was ich sage“, schrie sie uns nach. Ein faules G‘sindel seids! Statt arbeiten gehts fechten. Der Teufel soll euch holen!“ Ich zitterte am ganzen Körper. "Lass die Alte! Iss dein Brot. Wenn du willst, kannst meines auch noch haben.“ Er war die Güte in Person. Er nahm mich wieder bei der Hand, und wir trotteten gemütlich auf der staubigen Straße weiter. (...)

Kein einziges Fahrzeug begegnete uns. Die Straße gehörte uns ganz allein. Dann war der Abschied da. Er schlüpfte aus meinem Rucksack, hob ihn mir auf den Rücken und richtete mir die Träger zurecht, die er vor einigen Stunden verlängert hatte, weil sie für seinen breiten Rücken viel zu kurz waren. "Also, dann noch einmal vielen herzlichen Dank für das Butterbrot“, sagte ich ihm die Hand reichend. "Ich werde es nie vergessen.“ "Ist schon gut.“ "Du bist ein Schatz. Schade, dass sich unsere Wege jetzt trennen.“ Er schüttelte mir fest die Hand und wünschte mir eine gute Heimkehr. Bevor wir uns endgültig aus den Augen verloren, winkten wir uns noch einmal zu. Ich wusste weder, wer er war, noch woher er kam. Wir blieben beide namenlos.

Im Banne des Erlebten setzte ich frisch fröhlich Fuß vor Fuß auf der Schotterstraße, bis es zu dämmern begann. In der nächsten Ortschaft, ich wusste nicht, wo ich war, musste ich mich unbedingt nach einen Nachtlager umsehen. Heimkehrer werden überall gerne aufgenommen, hatte mein Begleiter gesagt. So betrat ich frohen Mutes ein Gasthaus, das unmittelbar neben der Straße stand. Grüßte freundlich und bat um eine Schlafstelle. Ich wusste, ich sah in meiner Aufmachung nicht gerade vornehm aus, aber was mir die Wirtin entgegen warf, war auch nicht gerade edel. Was ich mir wohl einbilden täte, das ganze Haus mit Läusen versauern, geschlechtskrank sein und andere womöglich anstecken. "Schau, dass du hinaus kommst, du dahergelaufener Schlampen!“ Ich kam nicht zum Reden, nicht einmal zum Luftholen. So schnell ratschte sie. "Der Hitler hat ganz Recht gehabt, dass er solches Bagage vergast hat. Schade, dass er nicht mehr lebt. Der hätte dich gleich nach Dachau geschickt!“ Wortlos drehte ich mich um. Im Gastzimmer hockte ein Tisch voll Männer. "Bist müde, komm setz dich zu uns“, sagte einer, "und iss was!“ "Danke für deinen guten Willen“, erwiderte ich. "Aber jetzt bin ich nicht mehr müde. Und was essen, wie du sagst, der Brocken würde mir im Hals stecken bleiben. Gu-te Nacht!“ Gewohnheitsgemäß tippte ich an die Schläfe und verließ das Lokal. "A Blitzmadl!“ rief einer hinter mir und lief mir nach. "Habe ich recht?“ Ich drehte mich um. "Hast du.“ "Wart einen Augenblick, ich red mit der Wirtin.“ - "Ja, glaubst du, ich geh da noch einmal hinein? Du warst bestimmt auch Soldat, oder?“ War er. Vier Jahre. Zwei davon sogar in Russland und jetzt schon eine Zeitlang daheim. "Dann weißt auch, dass man zum Schlafen nicht unbedingt ein Bett braucht.“ - "Aber die Nächte im Freien sind schon kalt.“ - "Hat man dich in Russland gefragt, ob dir kalt ist?“ Er schüttelte den Kopf. "Na also. Ich werde schon nicht gleich erfrieren. Und vielleicht findet sich einer, der mich anwärmt.“ Im Nu war ich von einem Schippel Männer umringt. Jeder wollte wissen, wo ich so lange gewesen wäre und was ich gemacht hätte. "Na was wohl?“ lachte ich in die Runde. "Herumgetrieben habe ich mich halt. Von etwas muss der Mensch ja leben.“ - "Ich glaube kein Wort von dem, was du gerade gesagt hast“, meinte einer. Ein anderer: "Sag schon, wo du warst! Es tät mich interessieren.“ - "Mich auch“, sagte wieder ein anderer aus der Runde. "Bei den Alliierten. Gestern bin ich in der Obersteiermark entlassen worden und seit heute früh bin ich unterwegs. Zufrieden? Kann ich jetzt gehen?“ (...)

War ein netter Haufen, dachte ich, während ich auf der abendlichen Straße weiter schlenkerte. Nach etwa zehn Minuten bog ich von der Straße ab in einen kleinen Obstgarten. Der Tag ging in die Nacht über. Ich nahm meinen Rucksack ab und lehnte mich an einem Obstbaum. Da erblickte ich am Rande des Gartens eine Hütte. Noch während ich überlegte, ob ich mir die Hütte näher anschauen soll, kam ein Mann auf mich zu. Ich fragte ihn gleich, ob die Hütte ihm gehöre und ob ich darin übernachten könnte. "Du kannst bei uns im Haus schlafen. Es ist aber nur Schab-stroh im Bett und ein Kotzen zum Zudecken.“ Das mache mir alles nichts aus, ant-wortete ich und ging mit ihm mit. Er brachte mich ins Haus und erzählte seiner Frau, dass er mich im Obstgarten aufgelesen hätte und dass ich im Holzschuppen schlafen wollte. Seine Frau war eine ganz liebe Person. Sie plauderte gleich drauf los, als ob wir alte Bekannte wären. Nebenbei hantierte sie beim Herd und stellte mir alsbald ein großes Häferl Milch her auf den Tisch. Der Mann schnitt über den ganzen Laib Brot ein Stück ab, strich Butter darauf und legte es dazu. "Greif zu und lass es dir gut schmecken“, sagte er in seiner gemütlichen Art. (...)

Beide Hände wiederum in den Trägerschlaufen meines Rucksackes verschlungen, er war schwer, enthielt er doch mein ganzes Hab und Gut, marschierte ich der Heimat entgegen. Zerschossene Häuser und Brandruinen säumten meinen Weg. Wie wird es daheim ausschauen, dachte ich bei jedem Schritt. Wen werde ich nicht mehr antreffen? Ich konnte ganz einfach nicht verstehen, was man mir erzählt hatte. Nicht einmal das, was ich jetzt selber sah. Ich glaubte, ich hätte den Krieg weit hinter mich gelassen. Es war ein Irrtum. Die Schlacht war zwar geschlagen, aber das Land rund um mich blutete aus allen Wunden. Eine Bank neben der Straße kam mir gerade recht, um mich ein wenig auszurasten. Ich nahm meinen Rucksack ab und labte mich an dem Wasser, das ich in der Früh bei meinen Quartiergebern in meine Feldflasche gefüllt hatte. Es schmeckte schal, obwohl es frisches Quell-wasser war. Beinah wie das Wasser aus dem Filterbeutel. Die Mittagszeit war lange vorüber, und der Magen meldete sich. Leider hatte ich keinen so liebenswürdi-gen Begleiter wie am Vortag. Und selber um Brot bitten und mich wieder beleidigen lassen? Nein. Ich sah bereits, wenn auch weit entfernt und in Dunst gehüllt, meinen Heimatort oben am Berg. Bis dahin schaffe ich es! Muss es schaffen, dachte ich. Nur nicht schlapp werden. Mein Gehwerk wurde immer langsamer, die Knie weicher und mein Binkel am Rücken schwerer. (...)

Je näher ich der Heimat kam, desto aufgeregter wurde ich. Erst recht, als ich die Straße hinter mir ließ und links den Berg hinauf abbog. Der Weg auf den Berg war mir von meiner Kindheit her vertraut. Ich ging ihn oft mit meiner Mutter, wenn sie ihren Bruder oder ihre Kusinen besuchte. Bald hatte mich der Wald aufgenommen. Die starke Waldluft machte mich so müde, dass ich beinah alle hundert Meter rasten musste. Machte mir schon die ebene Straße zu schaffen, so erst recht der Berg. Meine Füße spürte ich kaum noch. So setzte ich mich bald da auf einen Stein oder dort auf einen Baumstrunk und verschnaufte. Ich glaube, für das kür-zeste Stück Weg auf den Berg hinauf, brauchte ich am allerlängsten. Es war später Nachmittag, als ich das Tor zu unserer Kuhhalde öffnete. Ein beglückendes Gefühl. Gleich neben dem Tor stand die Birke, die uns vor Jahren als Klo diente. Daneben die großen Fichten, an deren Außenseite wir uns mit gespreizten Beinen von ganz oben, Ast für Ast herunterließen. Hunderterlei Gedanken aus der Kinderzeit wurden wach. Mitten auf der Waldwiese ließ ich mich nieder. Warf den Rucksack zur Seite und streckte mich der Länge nach aus. Blickte zum Himmel und dankte Gott für die gesunde Heimkehr. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich meinen Rucksack hier verstecken sollte. Er hing schwer auf meinen Schultern, als ob ich Blei eingepackt hätte. Verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Was ist, wenn ihn jemand findet und mitnimmt. Mein ganzes Hab und Gut wäre beim Teufel.

Nach einer Viertelstunde stand ich mit meiner Last am Rücken daheim vor verschlossener Tür. Das Haus stand noch genau so da, wie ich es einmal verlassen hatte. Es hatte keinen einzigen Einschuss oder gar ein Loch in der Mauer, so wie ich es auf dem Weg hierher oftmals gesehen hatte. Mit einer müden Bewegung schüttelte ich die Last von den Schultern, hockte mich auf die Türschwelle, von der es mich als Kind mit meiner Mutter herabgeworfen hatte, und wartete bis meine Angehörigen vom Feld heimkamen. Das Abenteuer, in das ich mich einmal mit Vollgas gestürzt hatte, war zu Allerheiligen 1945 beendet. Knapp vor Einbruch der Dunkelheit kam meine Familie, der Vater mit der Schwiegertochter und dem kleinen Mädchen von der Feldarbeit heim. Eine freudige Überraschung. Den Vater trieb es Tränen in die Augen. "Weil du nur wieder da bist ...“, stammelte er immer wieder. "Weil dir nur nichts passiert ist ...“

Josefa Paul wurde 1924 als jüngstes von neun Kindern einer Häuslerfamilie nahe Friedberg in der Oststeiermark geboren. Sie war als ländliche Dienstmagd und im Gastgewerbe tätig, bis sie sich als Zwanzigjährige zur Ausbildung als Nachrichten-helferin in der deutschen Wehrmacht meldete. In Norditalien geriet sie mit Kriegs-ende in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Tipp
Wenn Sie selbst Erinnerungen zum Thema dokumentieren möchten, oder jemanden kennen, der dies tun möchte, so wenden Sie sich bitte an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, die solche schriftlichen Geschichtszeugnisse in ihrem Archiv sammelt und wissenschaftlich aufarbeitet. Zu erreichen unter der Wiener Telefonnummer 04277/41306 bzw. per E-Mail.

Buch-Tipp
Josefa Paul, "Frag nicht nach dem Warum", Verlag Novum, ISBN 3900693129

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Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen