Erinnerungen von Friedrich R. Miksa
1945 - Die Gasse
Im Rahmen des Themenschwerpunkts Österreich 2005 hat Ö1 in einer Kooperation mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien mehrere Sendungen konzipiert. Den Auftakt bildet die Ö1 Reihe "Moment - Leben heute".
8. April 2017, 21:58
Am 2. Mai 1945, sechs Tage vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, geriet ich in russische Kriegsgefangenschaft. Ich erinnere mich noch ganz genau an das gutmütig grinsende Gesicht des mongolischen Soldaten, der mit großer Freude meine Armbanduhr um sein Armgelenk streifte, an der schon schätzungsweise 15 bis 20 "Ura baumelten. Der gute Mann fühlte sich reich wie ein König.
Nach einem Marsch von zirka 60 Kilometern kamen wir in ein Gefangenenlager in der Nähe von Frankfurt an der Oder, wo wir relativ gut behandelt wurden; allerdings bekamen wir vier Tage lang weder zu essen noch zu trinken. Am fünften Tag wurde von der Lagerküche eine Kuh geschlachtet. Das halb verhungerte Rindvieh mochte schätzungsweise 350 bis 400 Kilogramm gewogen haben - was da auf einen Gefangenen entfiel, kann man sich leicht ausrechnen. Wir waren zirka 36.000 Mann in einigen Baracken zusammengepfercht, und jeder bekam einen Viertelliter Suppe in die Konservendose, in der dann mit etwas Glück ein kleiner fettloser Happen schwamm; dazu ein faustgroßes, glitschiges Brot, und das musste reichen für den Tag. Am Morgen gab es dann noch einen Achtelliter Kaffeeersatz und einen Esslöffel Rohzucker.
Not macht erfinderisch und mutig. Beim Stacheldrahtzaun wuchsen Löwenzahn und Brennnessel. Hatte nun ein gutmütiger Wachposten Dienst, so drehte er uns den Rücken zu, und wir robbten schnell hin und ernteten so rasch wie möglich einige junge Blattspitzen. Diese brockten wir dann in die Suppe und hatten so etwas Gemüseersatz. So vergingen die Tage und Wochen in schrecklicher Eintönigkeit. Die Arbeitsfähigen unter uns hatten durch ihre Tätigkeiten etwas mehr Abwechslung und bekamen auch eine Kleinigkeit mehr zu essen. Sie hatten bei der ärztlichen Untersuchung die Nummern 1 oder 2 erhalten. Die Nummern 3 und 4 brauchten nicht zur Arbeit - sie konnten auch nicht, da sie zu schwach waren. Ich hatte die Nummer 3 erhalten. Die Untersuchung, die eine ukrainische Ärztin durchführte, war mehr als eigenartig: Man kniff uns in die Pobacken und Hoden. Vor der Gefangennahme hatte ich 73 Kilogramm, wog aber nach kurzer Zeit nur mehr 43 Kilogramm.
Ständig ging das Gerücht um, dass wir arbeitsunfähigen Österreicher in die Heimat entlassen würden, und einmal war es wirklich soweit. Als Marschverpflegung bekamen wir einen Viertelliter Sonnenblumenöl, dazu einen ganzen Wecken Kommissbrot, das war aber auch schon alles. Die Lagertore öffneten sich, und unter den Klängen des Donauwalzers, intoniert von der Kapelle des ehemaligen Deutschlandsenders, marschierten wir in die Freiheit und in eine ungewisse Zukunft. Hinter mir lag fast ein halbes Jahr "Stacheldraht, vor mir 1.000 Kilometer Landweg, vorwiegend zu Fuß. Transportmöglichkeit gab es keine. Nach stundenlangem Marsch erwischten wir einen eben zusammengestellten Güterzug in Richtung Berlin.
Die Strapazen des Heimwegs nach Wien durch das zerstörte Deutschland und über mehrere Demarkationslinien konnte Friedrich Miksa, zuvor schon entkräftet und krank, seiner eigenen Darstellung nach, nur aufgrund der selbstlosen Unterstützung einiger hilfsbereiter Menschen heil überstehen. Nach drei Wochen, reich an Hindernissen und Entbehrungen, brach Friedrich Miksa am 19. September 1945 von seiner letzten Zwischenstation, einem Linzer Krankenhaus, in dem er nach einem totalen physischen Zusammenbruch gepflegt worden war, zur endgültigen Heimkehr auf.
Ich bedankte mich herzlich bei allen, bekam von den guten Schwestern noch eine kleine Wegzehrung, begab mich wieder auf die Landstraße nach Wien und betete um eine Fahrtmöglichkeit. Noch war ich sehr schwach; ich wog damals zirka 47 Kilogramm, um 30 Kilogramm weniger als vor der Gefangenschaft. Aber nun schien es, als ob die ärgste Mühsal und das Bangen vorbei seien. Ich war noch keine fünf Kilometer von Linz entfernt, als ich mich einer großen Tankstelle näherte, vor der mehrere LKW angestellt waren. Es war eine Tankstelle für Holzgas, deren es damals etliche gab. Gleich beim ersten LKW-Fahrer - es war eine Frau in mittleren Jahren - erhielt ich eine positive Antwort: "Ja, ich fahre nach Wien. Und wenn ich mit dem Sitz ganz oben auf den Fässern in luftiger Höhe zufrieden sei, dürfte ich mitfahren, allerdings musste ich halt auch eine gewisse Verschmutzung in Kauf nehmen, denn in den Fässern seien allerhand Farben und Öle. Ich sagte freudig zu, man half mir noch hinauf, und ab ging die Post. Bis St. Pölten ging es trotz der Rumplerei auf schlechter, von den Russenpanzern sehr beschädigter Straße - die Westautobahn ging ja damals noch nicht so weit - ganz flott dahin. Leider fing es dann an zu regnen und zeitweise goss es in Strömen. Es dauerte nicht lange, und ich war klatschnass bis auf die Haut. Es hatte dies aber auch einen Vorteil, denn die sonst zahlreichen russischen Kontrollen waren nicht zu sehen.
Bereits am frühen Nachmittag kamen wir in Wien an. Die erste Straßenbahn - welch ein Anblick ... Der LKW fuhr die Hadikgasse entlang, und beim Schloss Schönbrunn hielt er an. Die LKW-Fahrerin fragte mich, wo ich absteigen wolle bzw. wo ich zu Hause sei. "Hier ganz in der Nähe, sagte ich ganz beklommen, denn ich brachte vor Aufregung fast kein Wort heraus. Ich verabschiedete mich noch, und die Odyssee war zu Ende. Ich ging ein paar Schritte bis zu Eisenbahnbrücke der Westbahn über die Johnstraße, dann musste ich mich auf einen Randstein setzen, die Beine versagten mir einfach den Dienst. Ich war keine zehn Minuten von der Wohnung meiner Schwiegereltern in der Benedikt-Schellinger-Gasse, wo ich auch meine Frau vermutete, entfernt. Es war der 19. September 1945, der gleiche Tag, an dem ich aus dem Spital der Elisabethinen entlassen worden war.
Was würde mich erwarten? War alles gesund? Unser Heim intakt? Überall zerstörte Häuser und noch nicht aufgeräumter Schutt. So mochte ich einige Minuten gesessen sein. Ich wollte gerade versuchen, wieder weiterzukommen, doch, oh Schreck! Die Gegend, die ich so gut gekannt hatte, war mir auf einmal fremd ... Musste ich nun geradeaus gehen oder mich rechts oder links halten? Mir war wieder zum Heulen. Ich fand einfach nicht nach Hause! Wo war denn die alte, so vertraute Gasse? Es war auch kein Mensch zu sehen, den ich nach dem Weg fragen konnte. Endlich, es erschien mir wie eine Ewigkeit, nahte von der gegenüberliegenden Straßenseite eine ärmlich gekleidete Frau. "Ich bitt' Sie um eine Auskunft ... - aber leider, die Frau, anscheinend sehr verängstigt, beschleunigte ihre Schritte. Einige Meter weiter blieb sie dann doch kurz wieder stehen - offenbar hatte sie meine bittend erhobenen Hände gesehen - und sagte mir, wie ich gehen sollte. Ja, da war auch schon die Schule, die ich kannte. Und auf einmal stand ich vor unserem Wohnhaus. Ich wohnte damals, immer wenn ich auf Fronturlaub war, bei meinen Schwiegereltern im dritten Stock. Lift gab es in dem Haus keinen.
So stand ich unten im Parterre vor dem Stiegenaufgang und wollte hinauf, aber wieder versagten mir meine Beine den Dienst. Aber ich musste hinauf, koste es, was es wolle. Also gut, dann auf Händen und Füßen wie ein Hund! In dieser Situation fand mich unsere im Hause wohnende Greißlerin, die vor Schreck einen Schrei ausstieß und wieder zurück in ihre Wohnung rannte. Durch die Tür hörte ich sie noch zu jemandem sagen: "Ich weiß nicht, aber ich glaube, das war der Herr vom dritten Stock.
Das Wiedersehen zu schildern, möge mir erlassen bleiben ...
Es dauerte nicht lange, bis ich nach einer kurzen Aussprache mit meiner Frau und meiner Schwiegermutter und nachdem ich noch mit Sago-Schnitzel und mit einer Zigarette als Nachtisch gelabt worden war, in einen todesähnlichen Schlaf fiel. Nach dem Munterwerden war meine erste Frage, was wir für einen Tag hätten. "Freitag, gab man mir zur Antwort. "Nein, das gibt es nicht, sagte ich, "ich bin doch an einem Dienstag nach Hause gekommen! - "Ja, mein Lieber, aber es ist so. Du hast volle drei Tage durchgeschlafen. Bedürfnisse hattest du während dieser Zeit keine, sagten meine Lieben. Kein Wunder: Hunger und Durst kannte ich ja, und so funktionierten naturgemäß auch andere Bedürfnisse nicht. Ich war wie gelähmt.
Friedrich Rudolf Miksa wurde 1916 in Wien-Hernals geboren. In den 1930er Jahren entging er der Arbeitslosigkeit durch eine freiwillige Meldung zum österreichischen Bundesheer, er wurde Berufssoldat. Nach dem "Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde er in die deutsche Wehrmacht übernommen und nahm von Beginn an am Zweiten Weltkrieg teil.
Tipp
Wenn Sie selbst Erinnerungen zum Thema dokumentieren möchten, oder jemanden kennen, der dies tun möchte, so wenden Sie sich bitte an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, die solche schriftlichen Geschichtszeugnisse in ihrem Archiv sammelt und wissenschaftlich aufarbeitet.
Buch-Tipp
Gert Dressel, Günter Müller, "Geboren 1916", Böhlau Verlag, ISBN 3205984927
Link
Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen