Herausgeber Michael Rot zur quellenkritischen Fassung

Warum eine neue "Carmen"-Ausgabe?

Sie zählt zu den größten Hits der Operngeschichte: Bizets "Carmen", mit der Nikolaus Harnoncourt die heurige "styriarte" eröffnet. Ö1 überträgt die Oper am Montag live aus Graz. Herausgeber Michael Rot erklärt die Hintergründe der neuen quellenkritischen Ausgabe.

Zu den Höhepunkten des diesjährigen Programms des steirischen Festivals "styriarte", das am Samstagabend eröffnet wurde, zählt Georges Bizets "Carmen".

Für die musikalische Interpretation des Werks, einem der größten Hits der Operngeschichte, sorgt Star-Dirigent Nikolaus Harnoncourt. Ebenso prominent ist die Regie mit Andrea Breth besetzt. Und rund um dieses Opern-Ereignis gibt es einen "Carmen"-Schwerpunkt: Eine Ausstellung im "Joanneum" zum Carmen-Mythos, eine Theateraufführung über Roma auf der Murinsel - und schließlich die Ö1 Live-Übertragung am Montag ab 19:00 Uhr.

"Carmen"-Neufassung

Von Klieschees befreien wollten Nikolaus Harnoncourt und Andrea Breth die sinnlichste Frau der Operngeschichte. Und für Überraschung dürfte auch die neue Fassung der Bizet-Oper, die auf den Urtext zurückgeht, sorgen. Im folgenden Text erläutert Herausgeber Michael Rot von der "Verlagsgruppe Hermann" die Entstehung der neuen quellenkritischen "Carmen"-Ausgabe:

"Carmen" ist mit Sicherheit eine der meistgespielten Opern weltweit, und so gibt es natürlich auch schon zahlreiche Noten-Ausgaben davon. Das begann mit den ersten Publikationen von Choudens kurz nach der Uraufführung und wurde fortgesetzt von Peters in Leipzig. Beide sind Ausgaben auf hohem Niveau, aber ohne den damals auch noch nicht üblichen Anspruch auf quellenkritische Präzision.

Fritz Oeser versuchte in den 1960er Jahren im Alkor Verlag als erster, Bizets "Carmen" auch in dieser Hinsicht den ihr zukommenden Stellenwert beizumessen, und Robert Didion verfaßte vor wenigen Jahren eine kritische Ausgabe für den Verlag Schott. Diese beiden Ausgaben unterscheiden sich grundlegend in ihrer Zielsetzung, wo aber Erstere den Quellenbegriff zu weit fasst, und etwa die Rezitative mit einbezieht, die nach Bizets Tod von E. Guiraud komponiert wurden, ist Letztere zu restriktiv, weil sie versucht, eine Art "Idealfassung" des Stückes herzustellen.

Beides entspricht zum Teil nicht dem heute üblichen allgemeinen Anspruch quellenkritischer Musikwissenschaft, keinesfalls aber meiner Vorstellung von Editionstechnik. Schon als Herausgeber der NEUEN JOHANN STRAUSS GESAMTAUSGABE in der Strauss Edition Wien (Verlagsgruppe Hermann) konnten Publikationen von Bühnenwerken vorgelegt werden, die völlig neue Wege beschreiten.

(...) Die zum Teil neuen Erkenntnisse in Bezug auf Bizets Willen gehen also im Wesentlichen nicht auf neue Quellen zurück, sondern auf neue Methoden der Recherche und der Lesart.

Bizet hinterließ uns seine "Carmen" in verschiedenen Versionen, aber nicht im Sinne mehrerer in sich geschlossener Fassungen, sondern eher als eine Fülle von Umarbeitungsstadien (...).

Bizet war mit seinen früheren Opern nicht sonderlich erfolgreich gewesen, und mußte also froh sein, daß die Opéra-Comique ein Stück bei ihm bestellte. Daß dazu noch die bekanntesten Librettisten, Henri Meilhac und Ludovic Halévy, den Text erstellen sollten, war für ihn eine große Chance.

Für die Präsentation der aus dieser Zusammenarbeit entstandenen "Carmen" war die gesamte Konstellation aber denkbar schlecht. Die Opéra-Comique war an allen Ecken und Enden mit den Schwierigkeiten des Werkes überfordert. Der Chor war gewohnt, wenige und eher einfach gesetzte Chorsätze ohne großen szenischen Aufwand zu absolvieren, und auch das Orchester war nicht darauf eingestellt, schwierige solistische oder rhythmisch anspruchsvolle Passagen einwandfrei auszuführen. So kam es schließlich zu erheblichen Widerständen gegen das Werk von seiten der Interpreten. Die Textdichter unterstützten Bizet nicht, und allein war er gegen die mächtige Direktion und die noch einflussreicheren Dichter machtlos. So sah er sich also gezwungen, Umarbeitungen vorzunehmen, manchmal gleich mehrmals an derselben Stelle.

Unabhängig von ihrer Entstehung sind manche Änderungen durchaus auch Verbesserungen, manche sind auch überhaupt ohne äußeren Druck entstanden, und stellen so wirklich Bizets letzten Willen dar. Andere wieder entsprechen mit Sicherheit nicht seinen Vorstellungen, manche sind schlichtweg unzumutbar (wenn etwa dem Chorsatz im letzten Finale Text und Rhythmus aus dem zweiten Akt unterlegt wurden, weil die korrekte Ausführung nicht einstudiert werden konnte).

Die überlieferten Quellen, allen voran Bizets fast vollständig erhaltene Partitur-Reinschrift, und sekundäre Materialien, wie die Noten der Uraufführung, aber auch Briefe u. ä. m., erlauben eine genaue Dokumentation der Genese der Fassungen. An diesem Punkt kann es aber nicht Aufgabe eines Herausgebers sein, Entscheidungen über die Qualität der einen oder anderen Version zu treffen; gefordert ist die lückenlose Dokumentation von Entstehung, Hintergrund, Umfeld und allen nötigen Begründungen. Aus diesem Grund sind in der neuen quellenkritischen "Carmen"-Ausgabe alle Fassungen gleichberechtigt in einer Partitur neben einander abgedruckt, sodass jede einzelne davon aufgeführt werden kann. Begleitet wird diese wissenschaftlich und inhaltlich völlig neue Partitur von einem umfangreichen Revisionsbericht, der parallel zur Partitur in ebenfalls neuartiger und anschaulicher Weise alle Fassungen dokumentiert.

Ergänzen möchte ich noch, dass auf Basis dieser kritischen Neuausgabe "Carmen" auch ein neuer Klavierauszug gedruckt wurde, der erstmals seit der Uraufführung den Klaviersatz revidiert. Alle bisherigen Klavierauszüge waren von der ersten Publikation abgeleitet, nur in der nun vorliegenden Neuausgabe orientiert sich der Klaviersatz erstmals direkt am Orchesterklang, aber auch an meiner mehr als 30-jährigen Erfahrung als Opern-Korrepetitor (...).

Ö1 Club-exklusiv: "Giardino Armonico"

Das Ensemble "Il Giardino Armonico", 1985 in Mailand gegründet, vereint Musiker, die sich auf das Spielen von Originalinstrumenten spezialisiert haben. Ihr Repertoire umfasst hauptsächlich Vokal- und Instrumentalmusik des 17. und 18. Jahrhunderts.

Im "harmonischen Garten" von Italiens beliebtestem Barockorchester blühen bei ihrem Konzert am 18. Juli im Rahmen der "styriarte" Klänge mit samtig-duftender Note: Telemanns große a-Moll-Suite, eine Sonate des Bachschülers Goldberg sowie Südlichsonniges von Nardini und Vivaldi.

Einige Ö1 Club-Mitglieder bekommen Gelegenheit, dieses Konzert exklusiv zu erleben. Danach stehen die Ensemblemitglieder Giovanni Antonini (Leiter) und Luca Pianca zum Plaudern zur Verfügung.

Anmeldungen dafür bitte schriftlich an den Ö1 Club, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien, per E-Mail, oder per Fax: (01) 501 70-372. Bitte geben Sie an, ob Sie allein oder in Begleitung kommen. Die Teilnehmer werden ausgelost und verständigt.

Anmeldeschluss: 8. Juli 2005

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