Märchen mit heutigen Zutaten

Zusammen ist man weniger allein

"Zusammen ist man weniger allein" ist der neue Roman von Anna Gavalda. Was passiert, ist vorhersehbar, aber unter der beruhigend märchenhaften Oberfläche lässt Gavalda die Geiseln der Gegenwart durchaus sichtbar werden: Einsamkeit, Gewalt, Armut.

Es war einmal vor gar nicht soo langer Zeit in der großen Stadt Paris. Da trafen sich vier Menschen reinen aber verzweifelten Herzens: Camille, die magere Malerin; Franck, der arbeitswütige Gourmetkoch; Philibert Marquet de la Durbellière, der stotternde Edelmann, und Paulette, die einsame alte Frau. Und nach vielerlei Prüfungen, die sie mit Bravour bestanden, begann für alle ein besseres Leben...

Zärtlicher Blick auf Menschen

Die 34-jährige Anna Gavalda stellt auch mit diesem, ihrem dritten Buch wieder eine besondere Fähigkeit unter Beweis: wunderbare Figuren zu schaffen, die sich fast ausschließlich über ihre Dialoge erschließen. Die Französin hat einen außergewöhnlich zärtlichen Blick auf Menschen: "Der spleenige Wohnungsbesitzer und die hinfällige Alte hatten ursprünglich nur Nebenrollen", erzählt Gavalda, "aber sie arbeiteten sich nach vorne, wollten nicht so unbedeutend bleiben. Diese Figuren sind in keiner Weise typisch für die Gegenwart. Dafür sind sie einfach zu liebenswert."

Vier, die alleine nicht mehr weiter können, tun sich zusammen. Wo sie im wahren Leben nur einsame Sonderlinge, Ausgestoßene und Kranke geblieben wären: Anna Gavalda bringt sie zusammen, macht aus ihnen eine verschworene Schicksalsgemeinschaft. Sie helfen sich auf, stützen sich, lieben sich und erleichtern sich gegenseitig die schlimmsten Momente. Vier Menschen, deren Stärke in dem Moment zutage tritt, wo sie einem Anderen die Hand reichen können. Gavalda beschreibt das in spaßigen, aber auch Herz zerreißenden Szenen. Eigentlich hatte Anna Gavalda nicht vor, ein modernes Märchen zu schreiben. Sie fürchtete sogar, das Buch könnte langweilig werden - "Kein Blut, keine Leichen und auch noch ganz wenig Sex." -, im Endeffekt war ihr aber wichtiger, "die Leser mit positiver Energie aufzuladen".

Moralische Instanz

Eine Auflage von 550.000 allein in Frankreich, Übersetzungen in mittlerweile 30 Sprachen: Anna Gavalda, die Ex-Lehrerin, allein erziehende Mutter zweier Kinder, ist ein Star in Frankreich. Durch ihre Bücher und die Interviews, die sie gegeben hat, wurde sie zu einer moralischen Instanz. Besonders ein Interview im Magazin "Lire" machte Furore. Darin spricht Anna Gavalda davon, wie lästig sie Geld findet. Es für sich arbeiten zu lassen gar unmoralisch. Und den Verleger zu wechseln, um noch mehr zu verdienen, das kommt für sie überhaupt nicht in Frage.

Lesestoff für jedermann

Nicht gesellschaftliche Utopien, sondern kleine Szenen, Alltagsgeschichten, Katastrophen im Klein- und Mittelformat: Darauf ist Anna Gavalda eigentlich spezialisiert. Ihr Roman "Zusammen ist man weniger allein" ist das Gegenteil der skandalumwitterten Sex- und Geständnisliteratur, die bis vor kurzem in Frankreich populär war. Er ist sanft und romantisch und Lesestoff für jedermann.

"Purer Eskapismus", werden kritische Geister sagen, denn was soll das anderes sein, wenn eine Magersüchtige von einem Koch gerettet wird, wenn ein stotternder Aristokratensohn sich sein Trauma auf der Bühne vom Leib schafft, wenn eine einsame, pflegebedürftige Alte zum Kristallisationspunkt einer Gemeinschaft der Fast-Gestrauchelten wird. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Aber: Es tut gut, auch mal zu träumen. Es tut gut, kurz mal für 500 Seiten ein wenig zu regredieren, um das Land der zarten und liebenswürdigen Märchenfiguren Anna Gavaldas genießen zu können.

Buch-Tipp
Anna Gavalda, "Zusammen ist man weniger allein", aus dem Französischen von Ina Kronenberger, Hanser Verlag, ISBN 3446206124