Arnold Stadlers "Liebeserklärung"
Mein Stifter
Adalbert Stifter polarisiert. Für Thomas Bernhard war er ein "maßlos überschätzter Blindgänger", Arnold Stadler liebt ihn. Das beweist er mit seinem kürzlich erschienenen Buch "Mein Stifter", das er selbst "eine Liebeserklärung" nennt.
8. April 2017, 21:58
Adalbert Stifter polarisiert. Da sind die einen, die voll Enthusiasmus von einem der bedeutendsten Erzähler deutscher Sprache schwärmen, da die anderen, die Stifters Texte als unerträglich langweilig abtun. Dieser Gegensatz bestimmte von Anfang an die Stifter-Rezeption: Während etwa Friedrich Nietzsche über Stifters Hauptwerk, den Roman "Nachsommer", meinte, dass dieses Buch es verdiene "wieder und wieder gelesen zu werden", versprach Friedrich Hebbel demjenigen, der den "Nachsommer" ohne Zwang freiwillig zu Ende lese, nichts Geringeres als die Krone von Polen.
Erinnerung an die erste Begegnung
Verdient hätte sich diese ganz bestimmt der Schriftsteller Arnold Stadler. Denn dass er den "Nachsommer" gründlichst gelesen hat, das beweist der Büchner-Preisträger mit seinem vor kurzem erschienenen Band "Mein Stifter".
Dies ist kein Sachbuch, sondern eine - vielleicht sonderbare - Liebeserklärung. Es ist zudem eine Vergegenwärtigung, eine Erinnerung an das erste Mal, an die erste Begegnung mit Stifter vor nun bald vierzig Jahren und an die gemeinsame Zeit seither.
Mit dieser einleitenden Notiz ist gleich eines klar gestellt: nämlich dass es in diesem Buch ebenso sehr um Arnold Stadler geht wie um Adalbert Stifter.
Leseereignis "Nachsommer"
Stadler hat den "Nachsommer" schon als 13-Jähriger gelesen. "Kein Mensch wird es mir glauben", vermerkt er dazu kokett. Wie und wann auch immer, auf jeden Fall scheint der Roman starken Eindruck auf ihn gemacht zu haben, denn der mittlerweile 51-jährige Stadler spricht vom "größten Leseereignis seines bisherigen Lebens". Und daher setzt er auch die eigene Lebensgeschichte und die eigene schriftstellerische Erfahrung immer wieder in Bezug zu Stifter und überprüft an Biografie und Werk dieser Bezugsperson eigene Wahrnehmungsformen und Emotionen.
Ausgangspunkt für Stadlers 200-Seiten-Essay sind fünf Stifter-Fotografien: Drei davon zeigen den Schriftsteller im Alter zwischen 50 und 60 Jahren - als fetten feisten k. k. Landesschulinspektor, mit verbissenem und auch ein wenig verzweifeltem Gesichtsausdruck. Die Fotos Nummer 4 und 5 entstanden 1867, wenige Monate vor dem Tod des Dichters, als dieser aufgrund seiner Leberzirrhose bereits stark abgemagert war - ein gebrochener, unglücklicher Mann.
Originelle Lektüre
Die physische Erscheinung Stifters liefert Stadler die Grundlage für seine zentrale These: dass nämlich Stifter mit seinem Leben, seiner unglücklichen Liebe und seinen ungestillten Trieben nicht anders zu Rande gekommen sei, als sie in Fress- und Alkoholssucht zu kompensieren und sich in seinen Büchern eine heile Idealwelt zu erträumen, einen Gegenentwurf zur eigenen chaotischen Existenz. Dieser Befund ist nicht überraschend, sondern durchaus gängige Lehrmeinung der Stifterforschung.
Man wird Adalbert Stifter nach der Lektüre von Stadlers Buch vermutlich weder mehr noch weniger mögen als zuvor, aber darum geht es auch gar nicht. Wichtig ist, dass man Arnold Stadler mag: seine Art zu erzählen, seinen ganz speziellen Stil, das Weit-Ausschweifen, das Schwadronieren, den Hang zum Pathos aber auch zur Bissigkeit, sein Changieren zwischen ausgefeilten Wortkaskaden und knappen, platten, klischeehaften Phrasen. Wenn man all das mag, dann ist Stadlers Buch sicher eine ohne Zweifel originelle Lektüre fürs Stifterjahr.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipps
Arnold Stadler, "Mein Stifter", DuMont Verlag, ISBN 3832179097
Leopold Federmair, "Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie", Otto Müller Verlag, ISBN 3701310955
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