Eine Lektion in Ahnungslosigkeit

Dober dan Koroska!

"Wir Kärntner müssen zusammenhalten", sagt der Kritiker R., der ein gebürtiger Wiener ist, und kratzt sich den breiten Rücken an der Türkante. In solchen Augenblicken sieht er tatsächlich aus wie ein Karawankenbär, der sich an einem Baumstamm das Fell reibt.

R. ist mit einer Kärntnerin verheiratet, kann also zumindest auf eine emotionale Bindung mit dem Süden verweisen. Wobei die beiden seit mindestens zehn Jahren in Scheidung leben und in dieser Zeit das Familieneinkommen zu einem guten Teil in Therapeuten und Anwälte investiert haben. Aber R. ist überzeugt davon, seinem Wesen nach ein österreichischer Sizilianer zu sein (gemäß einer Definition der Kärntner von "Mr. Suicide" Erwin Ringel).

Er ist auch, je nach Stimmungslage, Feminist, Männerbündler, Linksaktivist, bekennender Konservativer, Trinker und Abstinenzler. Jedem Widerspruch, den er produziert, zieht er sofort die ironische Wurzel. Im Augenblick des Sprechens ist ihm alles ernst. Sein Selbstbild beruht auf Fiktion. Vielleicht liegt das daran, dass er in der Literatur lebt, dass seine Erfahrung hauptsächlich auf Erfindung beruht. Ein pathologischer Zug, der ihn doch wieder ganz nahe an Kärnten heranrücken lässt, denn auch dort lebt man in einer Gegenwart, die sich auf eine nicht existierende Vergangenheit beruft.

Wie oft habe ich, der ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens nirgendwo anders gelebt habe als in Kärnten, gehört, dieses Land sei deutsch. Oft genug jedenfalls aus den Mündern von Lehrern, Chorsängern, Kulturfunktionären, Turngauleitern und Politikern, dass mir lange Zeit die Frage nicht in den Sinn kam, warum gerade deutsch, wo doch das Deutsche Reich seit 1945 nicht mehr existierte. Trotzdem war immer wieder die Rede vom deutschen Grenzland an Gail und Drau und von der Verteidigung des Deutschtums gegen die Slawen (die ich nur in Gestalt von Slowenen kannte, denen die Kärntner an Wochenenden gern einen Besuch abstatteten, um in Krajnska Gora oder in Bled billig und üppig zu essen oder in Jesenice sich um zwanzig Schilling die Dauerwelle auffrischen zu lassen).

Als das österreichische Bundesheer in den 80err Jahren in unserem Ort (und anderswo entlang der Grenze) Wehranlagen errichtete, um, wie es hieß, für den Kriegsfall vorzusorgen, war ich gegen jegliche Panik bereits immunisiert. Ich wusste zu dieser Zeit schon, dass es so wenig ein Deutschkärnten gibt, wie es ein Französischkärnten oder ein Griechischkärnten gibt. Mir war klar, dass, wenn man sich auf historische Kontinuitäten berufen wollte, man sich bis weit ins Steirische hinein mit "dober dan" begrüßen müsste.

Spätestens seit ich Freddie Adams kennen gelernt hatte, den Cousin meines Großvaters, der als Kind mit seinen Eltern in die USA ausgewandert war und kein Wort Deutsch sprach, war mir klar, dass in dieser Generation nichts anderes als slowenisch gesprochen worden war. In dieser Sprache konnte er sich mit meinem Großvater, den ich bis dahin ausschließlich als deutsch sprechenden Menschen erlebt hatte, unterhalten.

Ich hatte außerdem im Gymnasium erfahren, was plumper Rassismus ist. Von diversen Geschichte- und Geografielehrern hatte ich gelernt, dass Italiener nur mit nassen Fetzen zur Vernunft zu bringen seien, dass Europa früher oder später von der gelben Rasse überflutet werde (das sagten Leute, die heute einen Fremdwährungskredit in Yen laufen haben), dass Gailtaler schwul seien und Kärntner Slowenen ein Haufen Politaktionisten, hinter denen der greise Hund Tito stehe.

Ich hatte weiters gelernt, dass in Wien die Juden das Sagen hätten (nicht so in Kärnten, wo man den Slowenenfreund Kreisky mit Spucke und Fußtritten hinausgejagt hatte), und, apropos, dass, wenn man auf der Straße scheinbar grundlos stolpere, dreimal auf den Boden zu spucken sei, weil darunter ein Jud begraben liege.

Das war Sozialisation auf Kärntnerisch, begleitet von viel melancholischem Gesang, Weihrauch, Zeltfestatmosphäre und dem Geheul meines Cousins Heimo, der sonn- und feiertags auf Geheiß seines Vaters in den ackerschollenbraunen Kärntneranzug schlüpfen musste.

Die Existenz einer slowenischen Volksgruppe wurde in meiner Jugend zwar nicht geleugnet, aber auch nicht bestätigt. Kennen gelernt hatte ich jedenfalls nie jemanden, der sich ihr zuzählte. Als aber die Wehranlagen in unserem Ort errichtet wurden, hörte ich von einem Schriftsteller aus Unterkärnten namens Florjan Lipus und dessen von Peter Handke übersetzten Roman "Der Zögling Tjaz".

Ich habe lange Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass es in Kärnten überhaupt einen Schriftsteller gab (ich kannte nur welche, die das Land verlassen hatten; das tun sie auch heute), noch dazu einen, dessen Muttersprache das Slowenische war, der seine Bücher in Slowenien veröffentlichte und der viele Jahre warten musste, ehe ein Buch von ihm in einem österreichischen Verlag erscheinen konnte. Ich kauft das Buch und las, dass der Autor aus dem Dorf Leppen/Lepena stammte, das ich im Atlas nicht fand, weshalb ich mir vorstellte, es müsse im unteren Kärnten eine Art Amazonasurwald geben, undurchdringlich, geheimnisvoll und nur wenigen Ortskundigen zugänglich. Was Lipus aber in seinem Roman beschrieb, war so nahe an meinen eigenen Erfahrungen, die Welt zu sehen und zu beschreiben, dass ich während des Lesens eine Ahnung davon bekam, wie kulturelle und politische Segregation funktioniert, wie sehr Identität fremdbestimmt ist und auf Unterdrückung, Verleugnung, Deformation beruht, ohne dass all diese Dinge im Text angesprochen werden.

Der berühmte Kärntner Dichter Konfuzius sagte einmal: "Wenn über das Grundsätzliche keine Einigung besteht, ist es sinnlos, miteinander Pläne zu schmieden." Dieser schöne Gedanke ist dem "Entwicklungsleitbild Zukunft Kärnten" vorangestellt und macht deutlich, dass die Definitionshoheit über das "Grundsätzliche" auf Seiten der Mehrheit liegt. Der Minderheit bleibt es überlassen, sich auf die Vorgaben der Mehrheit zu einigen oder für das Wort "sinnlos" zuständig zu sein.

"Einmal muss Schluss sein", sagt meine Freundin K., die als Lokalredakteurin für eine Kärntner Zeitung arbeitet, "die Slowenen kriegen nie den Mund voll". Übrigens auch sie eine Yen-Kreditnehmerin. Seit einigen Jahren betet sie täglich zwanzig Minuten, das sei gut für den inneren Ausgleich, sagt sie, und ernährt sich ganz bewusst. Und sie will mir unbedingt einen Krimi im Villacher Faschingsmilieu schmackhaft machen. Der Täter trägt einen slowenischen Namen, Mostecnik, glaube ich. Schließlich müssen wir Kärntner zusammenhalten.

Buch-Tipp
Florjan Lipus, "Der Zögling Tjaz", übersetzt von Peter Handke, Suhrkamp Verlag

Link
Entwicklungsleitbild Zukunft Kärnten