Das Tal, in dem ich entsprungen bin
Der Schuss
Eine Wanderung durch ein Tal, ein vertrautes Tal, vertrauter Weg, vertraute Geräusche ringsum. Es ist Mai 1945. Plötzlich: ein Geräusch, das nicht passt, das stört, ein Knall, ein Schuss. Und dann ist nichts mehr vertraut.
8. April 2017, 21:58
Das Tal, mein Tal, wo ich auch immer einmal hinwollte. Kam nicht hin, schade. Kam nicht hin, wo ich gern entsprungen und den jüngsten Lauf getan hätte. Wäre. Wo ich nicht geblieben wäre. Gern, gern, aber ich kam nicht hin. Kam nicht hin, wo ich nicht geblieben wäre. Kam nicht hin.
So kann nur Ilse Aichinger schreiben. Nachzulesen in "Schlechte Wörter", diesem wunderbaren, subversiven Buch. Ich warte auf Aichingers nächste "Schattenspiele", ihre Kolumnen in einer Tageszeitung. Es ist Zwischenzeit. Vielleicht braucht es Geduld, aber ich habe sie. Ich warte auf diese Spiele, die keine Spiele sind.
Während ich warte, mache ich mich auf den Weg in ein Tal. In mein Tal, in dem ich entsprungen bin. Ich kam hin. Es war vor ein paar Tagen. Eigentlich ist es ein Talschluss. Es ist das einzige Wort, in dem ich "Schluss" ertrage.
Bizarre Kalkberge rahmen das Tal ein, Grate und Gipfel zeichnen zitternd das Halbrund. In den Karen lag die Sonne, als ich bergauf ging. Der Weg führte über steile Hänge, einen Sattel und weiter. Lärchennadeln woben einen hellbraunen Teppich über den Schnee, der noch weite Flächen bedeckte. Dazwischen waren Moose und Flechten gestreut, die in einem langen Winter von den Bäumen gefallen waren. Schneerosen zogen sich einen aperen Hang hinauf, alle nach Süden ausgerichtet, durchscheinend im Gegenlicht und wie in Erwartung. Worauf? Soldanellen da und dort, dunkellila. Weiße, noch stängellose Krokusse. Das große, immer wiederkehrende Register der Natur, dachte ich und - da drängte sich ein Satz dazwischen: "In Österreich blüht jetzt alles sehr auf, besonders das Bodenständige", - Ingeborg Bachmann schrieb den Satz - "das sind halt die Früchte vom Staatsvertrag, und einer von unseren Ministern hat gesagt, man muss sich würdig erweisen, was wirklich schon höchste Zeit ist."
Würdig erweisen. Gern, gern, aber ich weiß nicht wie. So mache ich Rast zwischen geschützten Latschen, es duftet nach Harz und Erde. Von weit unten im Tal dringt das Rauschen des Schmelzwasser führenden Baches herauf. Um mich nur der satte, kleine Ton, wenn es von den Bäumen tropft. Sonst Stille. Blaues Firmament. Und dann ein Rollen, Gurgeln, Kollern. Fliegt über das Land, der Wind treibt es über den Almboden, fliegt über die Hütten, die Hänge, die Schluchten. Beginnt leise, schwillt an, wird fast zu einem Singen, bricht ab, beginnt von neuem: ein balzender Auerhahn oder ist es ein Birkhahn?, der seine Not und seine Lust aus sich herauskollert, aus sich heraus und einem anderen zu, zur einen hin, die er meint. Auf dem Weg zurück sehe ich braune, an den Rändern gefiederte Kuhlen im Schnee. Vielleicht haben sie sich hier schon einmal geliebt.
Am Rand eines Schlages steht neben einem neuen noch der alte, morsche Hochstand. Und plötzlich höre ich den Schuss. Ein, zwei, drei Schüsse. Sie sind in meinem Kopf. Seit Jahrzehnten bersten sie in meinem Kopf. Sie springen aus der Erinnerung, oft dann, wenn es scheint, dass gerade ein Gran Glück zur Erde fiel. Die Schüsse galten einem Menschen, einem Flüchtenden, der sich in einem Heustadl versteckt gehalten hatte. Es war Mai 1945, ich war ein Kind und niemand wollte darüber reden. Heute weiß ich, wer er war. Auch das ist kein Trost.
Immer wieder komme ich hin, in mein Tal. Komme hin, aber bleibe nicht.
Service
Text: Brita Steinwendtner
Buch Brita Steinwendtner, "Im Bernstein", Haymon Verlag, ISBN 3852184673