Der eigene Platz in der Welt
Abnehmender Mond
Joseph Coulson erzählt über Generationen hinweg eine Familiengeschichte, die im Kleinen die große amerikanische Geschichte widerspiegelt. Mit diesem Roman ist Coulson ein fesselndes, dichtes Protokoll vom Kampf um den eigenen Platz in dieser Welt gelungen.
8. April 2017, 21:58
Allein, kalt, und windig fühlt sich die Geschichte an, die Joseph Coulson in "Abnehmender Mond" beschreibt, die Geschichte der Arbeiterfamilie Tollman. Sie beginnt in den 20ern, die Weltwirtschaftskrise hat Vater Tollman den Job gekostet, die Familie muss ihr Haus verkaufen und in eine andere Stadt in ein Zelt ziehen. Für die vier Kinder bedeutet das ein Leben als Ausgestoßene - sie werden das Lieblingsziel sämtlicher Hänseleien in der Schule. Die Szenerie ist hoffnungslos, alles scheint unaufhaltsam auf die Katastrophe hinzutreiben.
Aufwachsen in einer untergehenden Welt
Joseph Coulson teilt seinen Roman in vier Bücher, jedes einzelne spielt in einer anderen Zeit und trägt den Namen der Figur, aus dessen Sicht erzählt wird. Ist es im ersten Teil Stephen, der zweitgeborene Sohn der Tollmans, der sein Aufwachsen in einer untergehenden Welt beschreibt, so springen wir im zweiten Buch ans Ende der 30er direkt in die Arme der jungen Pianistin Katherine. Beide Tollman-Brüder, Stephen und Phil, verlieben sich in sie. Und Katherine, die aufgeklärte junge Frau aus der intellektuellen Mittelschicht, die begeisterte Kommunistin mit romantischem Hang zur Arbeiterschicht, wählt Phil, den Ältesten.
Phillip Tollman, das hochsensible, energische Kind aus dem ersten Buch, der Sohn, der den eigenen Vater immer verdammt hat für seine Schwäche, ist inzwischen selber erwachsen. Schweigsam. Die unbeholfenen Wutausbrüche der Kindheit haben sich in Verschlossenheit gewandelt. Über die Angst vorm Verlust wurde die Schutzhülle des Draufgängertums gestülpt. Und statt bei Katherine zu bleiben und sich auf eine Zukunft mit ihr einzulassen, meldet er sich freiwillig - und zieht als Soldat in den Zweiten Weltkrieg.
Provokation der Jugend
Das dritte Buch beginnt mit dem Satz "Mein Vater war ein Arschloch". Richtig: Wieder sind viele Jahre vergangen, wir befinden uns im Jahr 1968, und die Figur, die uns so provokant ins neue Kapitel führt, ist James, einer von Phils beiden Söhnen. Phil hat nach seiner Kriegsheimkehr geheiratet - nicht Katherine, sondern irgendein anderes Mädchen. Seine Söhne sind 17 und 19, und sie verachten ihn: für seine Gefühlskälte, für seine Teilnahmslosigkeit, für den Alkohol, der zum ständigen Wegbegleiter geworden ist. Der Zeitsprung in der Erzählung macht die Verrohung von Phil deutlich.
Waren es in den ersten beiden Teilen die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg, die das Leben der Tollmans beeinflusst haben, so sind es im dritten Teil die großen Rassenunruhen in der Motorcity Detroit und der Vietnamkrieg. Mit einer Schrotflinte bewaffnet, sitzt der betrunkene Phil auf dem Dach seines Hauses, Phil, der ewige Soldat, während seine Söhne voll Bangen auf ihre Einberufung warten. Die Kommunikation ist verstummt, die jüngere Generation kann die ältere nicht verstehen. Nur Stephen, Onkel Stephen, taucht immer wieder als Dolmetscher auf, als Friedensstifter.
Poetisch, dicht und intensiv
Der Roman "Abnehmender Mond" handelt von der unbändigen Kraft der eigenen Vergangenheit, und vom Einfluss, den die Lebensgeschichten unserer Eltern und Großeltern auf uns haben. Coulsons Sprache ist poetisch, dicht und intensiv, die Erinnerungen - sei es an Lebensabschnitte, Landschaften oder Gegenstände - sind unbarmherzig genau. Er redet nichts schön. Der Mond nimmt ab, verschwindet, und irgendwann nimmt er wieder zu. So ist das Leben.
Buch-Tipp
Joseph Coulson, "Abnehmender Mond", übersetzt von Ingo Herzke, C.H. Beck Verlag, ISBN 3406529771