Weiter in die Vergangenheit

Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein

In Hallgrimur Helgasons Buch stirbt ein berühmter Schriftsteller und wacht in einem Roman auf, den er vor 50 Jahren selbst geschrieben hat. Damit wird der bekannte Satz, dass Autoren in ihren Werken weiterleben, in diesem Roman direkt umgesetzt.

Ein alter Mann erwacht, bewegungsunfähig und verwirrt, auf einem Berghang. Er wird gefunden und vom nächstgelegenen Bauern wohl oder übel aufgenommen und versorgt, zumindest bis Identität und Wohnort des verwirrten Alten geklärt wären. Der gewinnt so langsam etwas Orientierung zurück: Er ist Schriftsteller, ein berühmter sogar. Das Tal kommt ihm bekannt vor, und irgendwie auch die Menschen, bei denen er da festsitzt. Aber zugleich ist auf diesem Hof etwas sehr sehr merkwürdig. Die Einrichtung, wie und was die Menschen sprechen, nur Jahrzehnte alte Zeitschriften und Kalender.

Sogar das Radio bringt die Nachrichten von 1952, und allmählich wird es dem Alten zu einer schrecklichen Gewissheit: Er ist um 50 Jahre zurückversetzt. Nicht nur das, ihm dämmert auch, woher er diese Umgebung kennt: Er selbst hat sie, eben vor 50 Jahren, in einem seiner Romane beschrieben, er hat sie erschaffen - die Menschen, das Haus, die Landschaft rundherum.

Reizvolle Spannungen und Verwicklungen

Aus dieser Situation ergeben sich in der Folge recht reizvolle Spannungen und Verwicklungen - für den Leser, nicht unbedingt für den gefangenen Autor. Der bekommt einiges zu leiden unter seinen Figuren und den Charaktereigenschaften, die er ihnen seinerzeit gegeben hat. Der Bauer ist ein grobschlächtiger und wortkarger Tyrann, der verbissen ums Auskommen kämpft: Er setzt sein Leben aufs Spiel, um im Schneesturm ein verlorenes Schaf wieder zu finden. Hartnäckig weigert er sich, seine kümmerliche Landwirtschaft aufzugeben, wie so viele in den 50er Jahren, zur Zeit der Landflucht, und in die Stadt zu ziehen. Für Leser in Island ist da längst klar, auf wen mit dieser Figur angespielt wird: Bjartur, der tragische Held aus einem der bekanntesten Romane von Halldor Laxness, dem 1998 gestorbenen Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1955.

Einar Grimsson alias Halldor Laxness

In der Tat: Der Schriftsteller, der nach dem Tod in seiner eigenen Erzählung weiterlebt, trägt Züge von Laxness. Dessen Kenner und Kritiker hatten zunächst einmal einiges damit zu tun, die Parallelen und Unterschiede zu diskutieren, zwischen dem fiktiven Autor im Buch und dem realen Vorbild. Und damit war zugleich für erbitterte Diskussionen gesorgt, denn Hallgrimur Helgason zeigt den großen Meister Laxness, den wie sein Biograf Halldor Gudmundson sagt, letzten Nationaldichter der westlichen Welt, in einem ganz und gar nicht freundlichen Licht.

Eitel, voller Vorurteile gegenüber Kollegen und ambivalent gegenüber dem Land, das ihn verehrt, so erscheint der Schriftsteller Einar Grimsson alias Halldor Laxness, den Hallgrimur Helgason doch auch wieder vom Vorbild abweichen lässt, ihn zum Beispiel den Nobelpreis nicht bekommen, sondern jedes Jahr im Oktober vergeblich auf den erlösenden Anruf aus Stockholm warten lässt.

Ein Stück isländische Kulturgeschichte

Hallgrimur Helgasons Roman wurde gewissermaßen zur Staatsaffäre. Literaturwissenschaftler, Historiker, Politikwissenschaftler, sogar der Ministerpräsident beteiligte sich an der Debatte über das Buch und Laxness' stalinistische Vergangenheit, die der Nobelpreisträger allerdings in seiner Autobiografie selbst scharf verurteilt hatte.

Helgason bekam für "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein" letztendlich den höchsten isländischen Literaturpreis. Die literarischen Qualitäten des Buchs sind unbestreitbar. Ein höchst komplexes, vielschichtiges Werk über Einbildung und Wirklichkeit, über künstlerische Schaffensprozesse und die Unfähigkeit, anders als in einer fiktiven Welt zu leben, zugleich ein Stück isländische Kultur- und Sozialgeschichte und das alles mit großem Witz, mit einer Fülle sprachlicher Einfälle und Bilder und geradezu Thomas-Bernhardschen Tiraden über Gott und die Welt und das Wetter und Island und Isländer.

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Buch-Tipp
Hallgrimur Helgason, "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein", aus dem Isländischen übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig, Verlag Klett-Cotta, ISBN 3608936521