Wechselvolle Geschichte

Kars, Stadt im Schnee

Im 19. Jahrhundert stand die uralte Stadt Kars immer wieder in den Schlagzeilen: als Kriegsschauplatz, Brückenkopf und Beutestück. Jetzt steht sie erneut im Zentrum des Interesses: als Schauplatz eines Romans von Orhan Pamuk.

Kars versinkt im Schnee, als der Protagonist von Orhan Pamuks jüngstem Roman dort ankommt. Es herrscht raues Klima in Ostanatolien, am Nordwestabhang des biblischen Bergs Ararat, auf 1750 m Seehöhe: Sieben Monate im Jahr regiert der Winter, das Jahresmittel wird mit 4,7 Grad Celsius angegeben. Kein Wunder, dass die Einwohnerzahl seit 1900 ständig sinkt, könnte man sagen, aber das hat nichts mit dem Wetter zu tun, eher mit dem politischen Klima.

Das Hochplateau an der Schleife des Flusses Kars ist schon seit Urzeiten besiedelt, davon zeugen zahlreiche prähistorische Funde, die im Museum der Stadt, der ehemaligen Kathedrale, stolz präsentiert werden. Die Abstammung von Noah und seinen Nachkommen, dessen Arche am Berg Ararat immer noch gesucht wird, konnte bis jetzt nicht bewiesen werden, aber die mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Ural oder Altai eingewanderten Hurriter und Urartäer schufen im ersten Jahrtausend vor Christus (u. a. durch ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem) die Grundlagen des späteren Reichtums.

Hauptstadt der Bagratiden

Von ca. 840 v. Chr. an gehörte die Gegend um Kars zum Königreichs Urartu, das zwei Jahrhunderte lang bestand und dessen Machtbereich zu seiner besten Zeit bis ans Schwarze Meer und ans Kaspische Meer reichte. Urartu leistete sogar den kriegerischen Assyrern im Süden erfolgreich Widerstand. Dann regierten Skythen, Lydier, Meder und schließlich Ostrom.

In den folgenden Jahrhunderten profitierte die Gegend, die man nun Armenien nannte, von den Karawanen, die Luxusgüter, vor allem Seide, über den Kaukasus ans Mittelmeer transportierten. Im 10. Jahrhundert wurde Kars für genau 33 Jahre zur Hauptstadt des Königreichs der Bagratiden, die die Stadtbefestigungen erweiterten und die Kathedrale der Heiligen Aposteln erbauen ließen. 961 verlegten die Bagratiden ihre Hauptstadt 45 km weiter nach Ani. Das lag direkt an der Seidenstraße und war auch klimatisch erträglicher.

Neuer Name: Schnee-Wasser

In Kars entstand für ca. 100 Jahre ein neues Königreich, das die Seldschuken eroberten. Sie gaben der Stadt ihren Namen: Kar-Su, Schnee-Wasser. Und sie bauten auf dem über den Fluss ragenden Felsen die mächtige Festung, die leider weder die Georgier noch die Mongolen davon abhalten konnten, die Stadt zu erobern und zu zerstören. Aber im Gegensatz zu Ani, das von Tamerlan 1386 dem Erdboden gleichgemacht und nach einem verheerenden Erdbeben zur Geisterstadt wurde, blieben die Bewohner ihrer Stadt treu und bauten sie immer wieder auf.

Das 19. Jahrhundert war für die Stadt sehr unerfreulich: Kars markierte einen wichtigen Punkt in der politischen Geografie: Wenn es den Russen gelänge, Kars zu erobern, wäre für sie der begehrte Weg zum Mittelmeer um ein Beträchtliches kürzer. 1829 wurde Kars zum ersten Mal russisch, musste aber wieder herausgegeben werden. 1855 wurde Kars wieder belagert und erobert. Die Ereignisse, die zum Fall von Kars geführt hatten, wurden von Karl Marx penibel recherchiert, aber erst 1877 konnte die russische Grenze im Westen von Kars gezogen werden. Viele reiche Russen witterten in der neuen Grenzstadt gute Geschäfte. Ein neues Stadtviertel wurde gebaut, großartige, von Bäumen gesäumte Boulevards wurden angelegt, prunkvolle Häuser entstanden, sogar eine besondere Spielart des Jugendstils soll sich entwickelt haben.

Im Vergessen versunken

Mit dem Ersten Weltkrieg begann der Niedergang der Stadt: Erst wurde sie von den Türken zurückerobert, dann herrschte Bürgerkrieg: Türken erschlugen Armenier, Armenier erschlugen Türken, schließlich wurde ein Großteil der alteingesessenen Bevölkerung vertrieben, und Kars fiel ins Vergessen. Bis Orhan Pamuk den Dichter und Journalisten Ka in der im Schnee versinkenden Stadt des Schnees ankommen lässt.

Mehr zu Orhan Pamuk in oe1.ORF.at und Ö1 Inforadio

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 7. Dezember 2006, 11:40 Uhr

Buch-Tipp
Orhan Pamuk, "Schnee", Hanser Verlag, ISBN 3446205748

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Links
Anatolia - Kars
Karl Marx - Der Fall von Kars
Kathedrale von Kars (englisch)
Kars und Umgebung (englisch)
Aarchäologische Orte der Türkei (englisch)