Vergessen ist unmöglich
Die Tränen meines Herzens
Am 17. April jährt sich die Machtübernahme der Roten Khmer in Kambodscha zum 30. Mal. Offiziell ist diese Vergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet. Wie haben die Überlebenden die Gräuel der knapp vierjährigen Terrorherrschaft psychisch bewältigt?
8. April 2017, 21:58
Die Bilder habe ich jederzeit vor Augen: wie das Baby erschlagen wird...; wie sie meinen Vater in die Grube stoßen und seinen Körper zerhacken; wie der Kopf von einem meiner jüngeren Brüder mit einer Axt in zwei Hälften gespalten wird... Die Erinnerungen bleiben immer frisch. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und empfinde mit ganz neuer Intensität, wie meine Familie mir fehlt. Jahrelang habe ich versucht, die traumatischen Bilder vom Tod meiner Familie abzuschütteln, doch ohne Erfolg. Vergessen war unmöglich.
Dreizehn Angehörige hat der Kambodschaner Sokreaksa Himm im Jahre 1977 unter grausamen Umständen verloren: die Eltern, sieben Brüder, zwei Schwestern sowie seine Schwägerin und seinen Neffen. Er selbst überlebte, weil der Schlag auf den Nacken, mit dem er in das Massengrab gestoßen wurde, nicht stark genug war, er sich aber sofort tot stellte.
Sokreaksa Himms Angehörige zählen zu den insgesamt bis zu zwei Millionen Kambodschanern, die unter dem Regime der Roten Khmers an den Folgen von Gewalt, Hunger und Krankheit ums Leben kamen. Aus dem agrarkommunistischen Paradies, das zu errichten die Roten Khmers angeblich vor hatten, wurden die Killing Fields, die Felder des Tötens. Rund ein Viertel der damaligen Bevölkerung von sieben Millionen fiel dem Terrorregime zum Opfer.
Trauriges Jubliäum
Am 17. April, jährt sich zum 30. Mal der Tag, an dem die Roten Khmers die Hauptstadt Phnom Penh unter ihre Herrschaft brachten und damit die Kontrolle im ganzen Land an sich rissen. Offiziell ist diese Vergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet. Phnom Penh und die UNO haben sich zwar auf die Abhaltung eines Tribunals geeinigt, doch wann es tatsächlich stattfinden wird, steht noch nicht fest. Der einstige Chef der Roten Khmers, Pol Pot, starb 1998 im Dschungel im Westen von Kambodscha. Andere ehemalige Führer hatten sich schon Anfang der 90er Jahre mit der damaligen Regierung eine Amnestie ausgehandelt. Nur wenige sitzen heute in Haft.
Die Erinnerung der Überlebenden
Wie haben die Überlebenden die Gräuel der knapp vierjährigen Herrschaft der Roten Khmers psychisch bewältigt? Wie sehr leiden sie heute noch unter den Traumata? Viel ist davon nicht bekannt. Noch immer sind es - abgesehen vom Genoziprogramm an der US-amerikanischen Yale-Universität - vor allem Einzelpersonen wie Sokreaksa Himm, die die Zeit von 1975 bis 1979 in autobiografischen Werken zu beschreiben versuchen.
Hunger, Angst, Gewalt
"Die Tränen meines Herzens" nennt sich das 2003 im Englischen und Ende 2004 in deutscher Übersetzung erschienene Werk von Sokreaksa Himm. Es beginnt mit dem 17. April 1975, jenem Tag, an dem die Roten Khmers in Phnom Penh einmarschierten. Kurz danach begannen sie mit der Evakuierung der Städte. Auch der damals elfjährige Sokreaksa Himm und seine Familie, die damals in Siem Reap im Westen des Landes lebten, wurden gezwungen, all ihren Besitz zurück zu lassen, und in einem Dorf zwangsangesiedelt. Einprägsam schildert Sokreaksa Himm dann die Angst, den Hunger, die Zwangsarbeit und die Gewalt der Jahre unter den Khmers Rouges, seinen Weg in ein thailändisches Flüchtlingslager und schließlich sein neues Leben in Kanada.
Zwischen Rache und Vergebung
Wie in anderen, vor allem in englischer und französicher Sprache erschienenen Werken von Überlebenden des Khmers Rouges-Regimes nimmt auch bei Sokreaksa Himm die Frage nach dem Vergessen - dem Vergessen-Wollen, Vergessen-Dürfen und Vergessen-Können - einen zentralen Platz ein. Was Sokreaksa Himm besonders bewegt, ist das Thema Rache und Vergeben.
Die Erfahrungen unter den Roten Khmers haben ihn zutiefst traumatisiert, und über die Jahre versucht er mit Psychologie und Sport, mit Selbsttherapie und schließlich über das Christentum zu einem inneren Frieden zu gelangen. Die buddhistische Karma-Lehre, wonach jeder sein heutiges Leiden durch frühere Taten zu verantworten habe, empfand er nach eigenen Worten nur als weiteren Schlag in einer Zeit, in der er mit dem erlebten Leid zurecht zu kommen versuchte. Der Umgang der christlichen Lehre mit dem Thema Leiden erschien ihm da viel geeigneter, und so arbeitet Sokreaksa Himm nach langen Jahren in Kanada heute als therapeutischer Seelsorger in Kambodscha.
Mehr Fragen als Antworten
Sokreaksa Himm unterscheidet sich damit von anderen Überlebenden, die gerade durch den Buddhismus darin bestärkt werden, dass es Gerechtigkeit geben wird. Wieder andere hoffen auf ein Tribunal und auf Gerechtigkeit in einem demokratischen Kambodscha.
Interessant und bewegend sind die vielen Fragen, die Sokreaksa Himm in seinem Buch zu den beiden Komplexen "Wie konnte es geschehen" und "Wie wird man mit den Traumata fertig" aufwirft. Sehr kursorisch und irritierend fallen dagegen manche Antworten aus. Das offiziell oft herbei gewünschte Vergessen ist für die einzelne Person jedenfalls unmöglich. Das Verstehen des Genozids ebenso.
Mehr zu den in Kontext vorgestelltn Büchern in Ö1 Programm
Buch-Tipps
Sokreaksa Himm, "Die Tränen meines Herzens", aus dem Englischen von Christian Rendel, Brunnen Verlag, ISBN 3765537934
Loung Ung, "Der weite Weg der Hoffnung" aus dem Amerikanischen von Astrid Becker,
Argon Verlag, ISBN: 3596152879
Rithy Panh avec Christine Chaumeau, "La machine khmère rouge, Monti Santésok S-21", Flammarion, ISBN : 2080684671
Francois Bizot, "The Gate", Alfred A. Knopf, ISBN: 037541293X
Chanrithy Him, "When Broken Glass Floats, Growing Up Under the Khmer Rouge, A Memoir, "Norton and Company, ISBN: 0393322106
Vann Nath, "A Cambodian Prison Portrait, One Year in the Khmer Rouge's S-21",
White Lotus Press, ISBN: 9748434486
Dith Pran, "Children of Cambodia's Killing Fields, Memoirs by Survivors",
Yale University Press, ISBN: 0300078730
Nancy Moyer, "Escape from the Killing Fields, One Girl Who Survived the Cambodian Holocaust," Zondervan Publishing House, Michigan 1991
Henri Locard, "Le 'Petit Livre Rouge' de Pol Pot ou Les Paroles de l'Angkar", Edition L'Harmattan, ISBN : 2738443265
Gail Sheehy, "Spirit of Survival", William Morrow and Company, nicht mehr lieferbar
Molyda Szymusiak, "The Stones Cry Out, A Cambodian Childhood 1975-1980",
Hill and Wang, New York 1986, nicht mehr lieferbar
Link
Basler Zeitung - Kambodscha privatisiert Killing Fields