Brave Hausfrau als Engelmacherin
Vera Drake
Von einer Engelmacherin, die im London des Jahres 1950 illegal Abtreibungen vornimmt und dabei auffliegt, erzählt der Brite Mike Leigh in seinem neuen Film "Vera Drake". Der Streifen war heuer dreifach oscarnominiert.
8. April 2017, 21:58
Sohn Sid verurteilt die Aktivitäten seiner Mutter vehement.
Richtig oder falsch? Hilfsbereite Retterin oder skrupellose Kriminelle? Hat Vera Drake (Imelda Staunton) schwangeren Frauen in Not geholfen, oder hat sie Leben getötet? Der britische Regisseur Mike Leigh wirft mit seinem neuen Film "Vera Drake" keine neuen Fragen zum Thema Abtreibung auf, aber er unterzieht allzu dogmatische Antworten einer Differenzierung.
"Ich wollte keinen polemischen oder gar didaktischen Film machen, keine Schwarz-Weiß-Sichtweise, sondern vielmehr das Publikum anregen, sich selbst eine Meinung über richtig oder falsch zu bilden," meint Mike Leigh.
Haushalt, Heirat, Häkeln
Das vermeintlich Böse präsentiert Mike Leigh in der Gestalt der herzensguten Hausfrau Vera Drake, Mittelpunkt Londoner Arbeiterfamilie des Jahres 1950. Vera ist keine Außenseiterin, sondern im Gegenteil eine angepasste Frau mit Vorliebe für Häkelware, eine Frau, die den Haushalt fest im Griff hat und ein liebevolles Verhältnis zu Mann und Kindern. Die Seife für eine Abtreibung verwendet sie so selbstverständlich wie jene zum Geschirrspülen. Die Familie weiß nichts von der - unentgeltlichen - Nebenbeschäftigung der Mutter, umso verständnisloser reagieren Kinder und Verwandte, als die Sache auffliegt und Vera vor Gericht gestellt wird.
Düsterkeit der Aufbaujahre
Mike Leigh erzählt sein Abtreibungs- und letztlich Justizdrama in einer simplen chronologischen Abfolge der Ereignisse, legt aber umso mehr Wert auf genaue Dekors und Kostüme. Sie vermitteln jene Düsterkeit der Aufbaujahre, in denen die aus Kriegszeiten gewohnte Solidarität langsam, aber sicher einem Ordnungssystem und gesetzlichen Regelwerk weichen musste. Bis 1967 war Abtreibung in England eine Straftat, ein Umstand, der viele schwangere Frauen in Not zu Engelmacherinnen getrieben hat. An juristischer Schuld oder Unschuld ist Mike Leigh aber letztlich ohnehin nicht interessiert.
Reich und Arm
Klassenbewusstsein schaffen, gesellschaftliche Unterschiede und die daraus folgenden sozialen Ungerechtigkeiten aufzeigen, politische Konsequenzen formulieren. Das sind seit jeher Mike Leighs Anliegen im Kino und "Vera Drake" bildet dazu keine Ausnahme, denn in einer Nebenhandlung des Streifens wird klar: Auch in der Frage der Abtreibung konnten betuchte Briten Mitte des letzten Jahrhunderts Auswege vorbei am - hier exemplarisch streng exekutierten - Gesetz finden.
Vera Drake
Großbritannien, Frankreich, Neuseeland, 2004
Mit: Imelda Staunton, Richard Graham, Eddie Marsan
Drehbuch und Regie: Mike Leigh