Kommentare von Befürwortern und Kritikern
EU-Stabilitätspakt neu
Klare Erleichterungen, vor allem für Defizitsünder, bringt der in Brüssel neu formulierte EU-Stabilitätspakt - ein Kompromiss, der einerseits mehr Flexibilität in schlechten Zeiten erlaubt, andererseits aber auch viel Spielraum in Wachstumsphasen lässt.
8. April 2017, 21:58
Wifo-Chef Karl Aiginger zum neuen Stabilitätspakt
Wegen der hartnäckigen Wirtschaftsflaute und einer lange Liste von Defizitsündern wurde in Brüssel der EU-Stabilitätspakt neu geschrieben. Die neue Formel ist allerdings ein Kompromiss, der viel Spielraum lässt:
Der sinnvollen Flexibilität in Schwächezeiten steht beispielsweise kein vorgeschriebenes Maßhalten in Wachstumsphasen gegenüber. Die EU-Staaten sind nur dazu angehalten, ihre Schulden in guten Zeiten zu reduzieren und Strukturreformen anzugehen. Ob die Reform ausreicht, das Wachstum anzukurbeln, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Die wichtigsten Punkte des Kompromisses
Grenzen: Die Grenzwerte von drei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt beim Defizit und von 60 Prozent bei der gesamtstaatlichen Verschuldung werden nicht angetastet.
Gute Zeiten: Phasen mit gutem Wachstum sollen verstärkt zur Sanierung der nationalen Budgets genutzt werden.
Ausnahmen: Bei Einleitung eines Defizit-Strafverfahrens und in den weiteren Etappen dieser Prozedur kann die EU-Kommission Ausnahme-Tatbestände berücksichtigen. Dazu gehören Reformen der Rentensysteme oder Kosten für Europas Vereinigung. Unter diesen Punkt fällt auch die deutsche Einheit. Voraussetzung dafür ist, dass die Überschreitung der Defizitgrenze vorübergehend ist und nahe am Grenzwert von drei Prozent bleibt.
Fristen: Die Fristen zur Defizitverminderung bei Sündern können gestreckt werden. Es ist nun möglich, erst drei Jahre nach Auftauchen eines überhöhten Defizits wieder die Grenze von drei Prozent einzuhalten. Falls die wirtschaftliche Entwicklung lahmt, können zusätzlich Schritte der Strafprozedur wiederholt werden.
Initiator und Dauer-Defizitsünder Deutschland
Die Defizitsünder reiben sich die Hände, allen voran: Deutschland - ursprünglich Initiator des alten Stabilitätspaktes von 1997, andererseits aber auch jetzt neben Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien wesentlich am Zustandekommen der neuen Reform-Richtlinien beteiligt. Der deutsche Finanzminister Hans Eichel strahlte jedenfalls nach Abschluss der Verhandlungen, hat er nun doch bis zum kommenden Wahljahr mehr Spielraum. Denn Österreichs wichtigster Handelspartner erreicht derzeit nicht nur bloß die Hälfte der von der EU-Kommission von zwei auf 1,6 Prozent zurückgenommenen Wachstumsrate und ist damit EU-Schlusslicht, er wird auch wieder einmal das Stabilitätsziel von drei Prozent Neuverschuldung - gemessen am Bruttoinlandsprodukt - verfehlen.
Aber nicht nur unser Nachbar, auch andere Staaten freuten sich über die Lockerung des Stabilitätspaktes. Entscheidend für die übrigens einstimmig beschlossene Reform - so verlautet aus Brüssel - waren jedenfalls nicht die Defizitsünder, sondern die hartnäckige Wirtschaftsflaute. Die Reaktionen nach dem Beschluss fielen im Detail sehr unterschiedlich aus. Die Finanzminister haben jetzt zwar weniger Angst vor einem Defizitverfahren, aber für den dringend benötigten Wachstumsschub reicht diese Reform bei weitem nicht, wird größtenteils formuliert.
Reaktionen aus Österreich
Recht zufrieden zum neuen Stabilitätspakt äußerte sich Reinhold Mitterlehner, EU-Koordinator in der Wirtschaftskammer und stellvertretender Generalsekretär. Seiner Ansicht nach schafft der gelockerte Stabilitätspakt den einzelnen Staaten so viel politischen Spielraum, dass sie keine Angst mehr haben müssen, die Konjunktur entweder kaputt zu sparen oder ein Defizitverfahren zu riskieren. Auch höhere Zinsen durch höhere öffentliche Defizite befürchtet Mitterlehner nicht.
Viel kritischer hingegen Werner Muhm, Kammeramtsdirektor der Arbeiterkammer: Die Stabilität habe - so Muhm - immer noch zu viel Gewicht, er vermisse deutliche Wachstumssignale. Muhm kritisiert auch, dass öffentliche Investitionen, die sehr schnell für mehr Wachstum sorgen würden, zu wenig berücksichtigt werden: "Für Stabilität sind in der EU viele verantwortlich - von der Kommission bis zur Europäischen Zentralbank - für Wachstum eigentlich niemand".
Die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie
Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch über die Dienstleistungsrichtlinie - also die Liberalisierung der Dienstleistungen über die Landesgrenzen hinweg. Sie wurde verschoben, obwohl sie nach Ansicht der Befürworter bis zu 600.000 neue Arbeitsplätze gebracht hätte. Reinhold Mitterlehner fehlt dieser zusätzliche Wachstumsimpuls. Die Ängste vor dieser Richtlinie seien nicht nur übertrieben, sondern vielfach auch völlig unbegründet. Sozialdumping sei schon deswegen nicht zu befürchten, weil auf Grund der so genannten Entsenderichtlinie stets die Sozialstandards jenes Landes gelten, in dem die Leistung erbracht werde, meint Mitterlehner.
Werner Muhm von der Arbeiterkammer hingegen ist froh, dass die Dienstleistungsrichtlinie jetzt einmal vom Tisch ist: Natürlich gebe es die Entsenderichtlinie, sagt Muhm, aber sie könne in der kurzen Zeit, in der in einem anderen Land gearbeitet werde, ja kaum kontrolliert werden. Außerdem werde in vielen Branchen über dem Kollektivvertrag bezahlt, die Entsenderichtlinie garantiere aber nur Mindeststandards.
Auch Karl Aiginger, neuer Chef des Wirtschaftsforschungsinstitutes, billigt die Verschiebung. Die Ängste davor hätten - so Aiginger - jeden positiven Effekt zunichte gemacht. Die neue Dienstleistungsrichtlinie würde voraussichtlich erst 2012 in Kraft treten. Von ihr sei also auch noch kein Wachstumsimpuls zu erwarten.
Lockerung zu spät?
Was den neuen Stabilitätspakt insgesamt anlangt, vermisst Karl Aiginger allerdings den großen Wurf. Die Lockerung reiche gerade so weit, dass die Defizitsünder nicht jedes Jahr verklagt werden können. Aber für einen Wachstumsschub komme sie zu spät und reiche bei weitem nicht aus, zumindest so, wie sie jetzt formuliert sei, meint er.
Wie der neue Wifo-Chef weiter ausführt, komme die Nagelprobe erst dann, wenn jene Ausnahmen und Regelungen festgelegt werden, die sich an den Lissabon-Zielen orientieren sollen - also Investitionen in Forschung und Entwicklung, in Bildung oder in Infrastruktur. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch, dass die Pläne für eine europäische Infrastruktur - also etwa die Transeuropäischen Netze - von den Mitgliedsländern nicht ernst genommen würden.
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