Familie Lustiger

So sind wir

So sind wir, lässt uns Gila Lustiger schon im Titel ihres neuen Buches wissen. Gila ist die Tochter von Arno Lustiger, dem bekannten deutschen Publizisten. Ihr Roman über die Lustigers wird zur komischen, nachdenklichen und traurigen Familiengeschichte.

Wenn die Tochter an ihren Vater denkt, sieht sie ihn umgeben von Zeitungen, mit einer Schere in der Hand: Ohne FAZ, Le Monde, Times oder El Pais mag Arno Lustiger nicht sein. Alles, was ihm interessant erscheint, wird ausgeschnitten und archiviert. Arno Lustiger war 15, als er ins Konzentrationslager kam. Ein naiver Bub, der ebenso wenig informiert war über das, was in Deutschland vor sich ging, wie seine Familie. Er hat sie fast gänzlich an den Holocaust verloren. Und nun will er kein zweites Mal ahnungslos ins Unglück rennen. Deswegen braucht er sie, die Zeitungen aus aller Welt. Wieso sich der Vater wirklich hinter seinen Zeitungen versteckt hat, versteht die Tochter erst als Erwachsene.

Nicht über Gefühle sprechen

Mutter Lustiger ist eine Meisterin des Alltags, Hauptdarstellerin im großen Durchhalteprojekt, wie es die Tochter nennt. Neben einer derart lebenstüchtigen Frau fällt es schwer, zu den eigenen Ängsten zu stehen. Die darf es nicht geben. Ob das von den Großeltern kommt? Polnisch-russische Juden, die 1924 nach Palästina ausgewandert sind und als Pioniere des Staates Israel gelten.

"Du sollst nicht über Gefühle sprechen", hatte es bei den Lustigers immer geheißen, "und ganz bestimmt nicht über solche, die ein glückliches, friedvolles Leben sabotieren." Todesmärsche, Deportationen, die Endlösung - ja, das hat es alles gegeben, aber warum darüber reden? Hauptsache, wir leben noch.

Familiengeheimnisse und weiße Flecken

Gila Lustigers Roman ist ein wunderbares Buch über Familiengeheimnisse, über weiße Flecken in den Biografien und die Versuche, mit einem Lachen über das Grauen hinwegzugehen. Auch Arno Lustiger hat mit seinen Kindern nie über die Zeit im KZ gesprochen. Das ist kein Thema. Bis zu jenem Tag, da Gila Lustiger, inzwischen selbst Mutter, in einem Essay-Band einen Bericht ihres Vaters entdeckt. Darin erzählt er von den Jahren in Auschwitz, in Groß-Rosen, Buchenwald und Langenstein.

Ein beklemmender Augenblick für die Tochter - soll sie ihn darauf ansprechen? Sie zögert und tut es doch: Er habe seine Kinder vor sich selbst beschützen wollen, erklärt ihr der Vater, beschützen vor dem ausgemergelten Jungen im KZ, jenem Buben, den er 50 Jahre lang zu vergessen suchte.

Gila Lustigers Spurensuche gleicht einer Berg- und Talfahrt, erst nach und nach kommt sie bei sich selbst an und damit bei ihrer Generation. Persönlicher Kummer, Alltagssorgen? Weg damit, das darf nicht sein. Gila Lustiger weiß, wie weit die Schatten des Holocausts in ihr Leben fallen, in ihres und in das ihrer Kinder und Kindeskinder. Im Angesicht von Auschwitz hat die eigene Befindlichkeit keine Bedeutung mehr.

Mischung aus Erzählung und Kommentar

Gila Lustigers Familienroman ist vorsichtig und forsch, nachdenklich und witzig. Gar nicht so einfach, ein Konvolut an Erinnerungen, Bildern und Erzählungen in eine literarische Form zu bringen. Bei Gila Lustiger ist es eine Mischung aus Erzählung und Kommentar, ein Hin und Her zwischen Damals und Heute. Die Familiengeschichte setzt sich erst nach uns nach zusammen - und bleibt letztlich Fragment.

Und vielleicht ist es kein Zufall, dass das Buch gerade dort scheitert, wo es fast schon scheitern muss: bei der Beschreibung oder auch Imagination dessen, was der Vater im KZ und in der Zeit danach erlebt hat. Der letzte Teil des Buches gerät ein wenig ins Flattern. Dass Gila Lustiger in diesem Buch an ihre Grenzen kommt, scheint sie zu wissen, sie spricht es auch aus. Und vielleicht gehört gerade dieses An-die-eigenen-Grenzen-Kommen zu einem Roman wie diesem einfach dazu. Weil auch das Stocken und Schweigen sprechen, weil die Ratlosigkeit oft beredter ist als so mancher kluge und durchkomponierte Essay oder Roman.

Buch-Tipp
Gila Lustiger, "So sind wir", Berlin Verlag, ISBN 3827005574