Kampf der Wissenskulturen auch in Krimis

Parallelwelten

Krimis und Wissenschaft leben in parallelen Welten. Krimis sind eine Wissenschaft. Wissenschaften sind wie Krimis. Sag mir, welche Krimis du liest oder welche Wissenschaft du betreibst, und ich sage dir, wer du bist. Und in welcher Zeit du lebst.

Wissenschaftler und Krimi-Kommissare haben vieles gemeinsam. Beide stellen Theorien auf und versuchen diese zu beweisen. Sie sammeln Indizien, fügen Puzzleteile aneinander, suchen nach dem Sein hinter dem Schein.

Wissenschaft und Polizei dürstet es nach Wahrheit. Von Anbeginn haben sie sich der Aufklärung verschrieben. Bei beiden ist es in letzter Zeit aber zu dramatischen Veränderungen gekommen. Da wie dort scheint der Kampf der Wissenstraditionen zugunsten der Naturwissenschaft entschieden zu werden.

DNA statt Kommissar

Bleiben wir bei Fernsehkrimis: Nicht mehr der fantasievollen Kombinationsgabe von Herr oder Frau Inspektor gelingt es nach 45 oder 90 oder 120 Minuten, die Täter zu überführen. An ihre Stelle sind Forensiker, Gerichtsmediziner und Pathologen getreten, die mit allen Mitteln der Naturwissenschaft den Fall lösen. DNA-Tests, Halbwertzeitbestimmung, Mikroanalysen.

Besonders erfolgreiches Beispiel: die beiden Serien von "CSI", die "Crime Scene Investigation" in Las Vegas und Miami. Da den Drehbuchautoren in den knapp 45 Minuten jeder Folge kaum ein sinnvoller Dialog eingefallen ist (und nie einer, der länger dauert als 30 Sekunden), werden dabei zumeist zwei Fälle gleichzeitig gelöst. Von Models, die Schauspieler geben, die Polizisten spielen.

Lange Nacht der Erforschung von Mordopfern

Die mediale Wissenschaftsvermittlung hat dafür ein sehr hohes Niveau: Da wird der Eintritt der tödlichen Kugel in den Unterkiefer quer durchs Gehirn und darüber hinaus in Superzeitlupe gezeigt, dass jedes Anatomie-Repetitorium seine Freude hätte.

Da erzählt jedes Sandkorn auf der Tatwaffe mehr über das Universum des Verbrechers als die Stringtheorie über Nussschalen. Und da wird der Todeszeitpunkt mit Hilfe bestens visualisierter Maden fast auf die Sekunde genau festgestellt, sodass selbst die Fliegenforscher entzückt wären.

Kurzum: Eine "Science goes public"-Aktion für interessierte Laien, die selbst die besten PR-Strategen des Österreichischen Forschungsrats vor Neid erblassen lässt. Naturwissenschaften zum Anfassen. Eine "Lange Nacht der Forschung" im - gerade ermordeten - menschlichen Körper.

Kalte Fälle als Gegenbewegung

Das ist also die naturwissenschaftliche Seite des zeitgenössischen TV-Krimis. Doch wie jeder anständige Mensch weiß: Actio est reactio. Keine Bewegung ohne Gegenbewegung. Auf den Hype des naturwissenschaftlichen Beweises folgt die Reaktion des gepflegten Verhörs.

Im Falle amerikanischer Krimiserien nennt sich die Antwort "Cold Case". Dabei stehen Mordfälle im Mittelpunkt, die vor vielen Jahren als ungeklärt zu den Akten gelegt wurden. Die Aufgabe von Detective Lilly Rush und ihrem Team ist es, diese "kalten Fälle" (meist aufgrund neuer Zeugen oder Beweislagen) in der Gegenwart aufzuklären.

Gespräche mit Aussicht auf Katharsis

Dazu werden zwar auch mitunter Knochen ausgegraben und neu analysiert. Hauptwerkzeug von Lilly Rush, deren Schlauheit allenfalls durch ihr Einfühlungsvermögen (und ihre Schönheit) übertroffen wird, ist aber das Gespräch. Das gute alte Verhör. Die qualitative Befragung. Die "talking cure", um ein Vokabel der Psychoanalyse zu verwenden.

Detective Rush betreibt eine Archäologie des Wissens, die jedem Kulturwissenschaftler zur Ehre gereicht. Stück für Stück legt sie Erinnerungsspuren der Beteiligten frei - ein Prozess, der für das Mordopfer und die Beteiligten letztlich in einer Katharsis mündet. Lange Jahre andauerndes Unrecht wird getilgt, falsche Schuld wird aufgeklärt, wahre Sühne kann endlich beginnen.

Dass das nicht ohne Pathos abgeht, ist offensichtlich. Unterstützt wird dieses Pathos durch Lieder aus dem jeweiligen Jahr des Verbrechens. Die Lösung des Falls, der Moment der Befreiung werden zum Videoclip - mit Soul aus den 60ern, Disco aus den 70ern, Pop aus den 80ern.

Affirmative Action für Lilly Rush

Wer bis hier gelesen hat, mag eine gewisse Sympathie meinerseits für das gute alte Verhör und eine Abneigung gegen die technikfixierten Zaubertricks in den Labors entdeckt haben. Das stimmt.

Zwar brauchen im Grunde beide Wissenstraditionen einander, um ordentlich Aufklärung betreiben zu können - gleichgültig ob bei Forschern oder bei Kommissaren. In Zeiten, in denen sich viele Geistes- und Sozialwissenschaften aber als nutzlose "Orchideenfächer" abqualifizieren lassen müssen, scheint mir "affirmative action" durchaus angebracht.

Links
Warner Bros - Cold Case
CBS - C.S.I. Miami
philo.at - "Clues" und die Chicago School of Sociology
tv.ORF.at