Im Gespräch mit Michael Kerbler

Martin Suter

"Ich kann mich erinnern, als kleiner Junge, da war es uns allen klar, auf diesen Banken liegt Geld von vergasten Juden und niemand kann das mehr verlangen. Das war für uns Kinder völlig klar!" (Martin Suter im Gespräch mit Michael Kerbler)

Michael Kerbler: Mit ist aufgefallen, dass in Ihren Romanen historische Bezüge eigentlich nicht vorkommen. Die Jahre zwischen 1935 und 1945, angesiedelt in einem Roman - dieses Sujet hat es bisher nicht gegeben.
Martin Suter: Also ich hatte schon auch Stoffe und Ideen, die so in den 20er- und 30er-Jahren spielten. Aber auch da ist es eine Frage dessen, was kennt man richtig gut? Ich kenne nun einmal die 30er-Jahre nicht. Ich kann mich mit Mühe noch an die 50er-Jahre erinnern und könnte auch etwas ansiedeln dort. Aber sonst kenn ich halt jetzt unsere Zeit am besten und fühle mich dort am sichersten. Sich sicher fühlen ist was Wichtiges beim Schreiben.

Mit dem Stück Geschichte zwischen 1935 und 1945 will sich die Schweiz ja bis dato nicht wirklich auseinandersetzen. (Was man in Deutschland früh gemacht hat, und wofür man in Österreich einige Jahrzehnte verstreichen hat lassen: Vergangenheitsbewältigung oder Mitverantwortung oder Mitschuld - wie auch immer, je nach Standpunkt.) Darüber, was hier an Versäumnissen in der Schweiz gelaufen ist - also Menschen, die fliehen mussten, die man nicht hereingelassen hat, bis hin zu durchaus existierenden Kontakten von Schweizer Bürgern zum Deutschen Reich.
Ich glaube, dass Sie nur recht haben, was die offizielle Schweiz angeht. Die offizielle Schweiz hat sich sehr lange nicht damit befasst und wurde erst kürzlich gezwungen, sich mit dieser Vergangenheit zu befassen. Und es war für mich eine unglaubliche Überraschung, dieser Aufschrei, der da durch das Land ging, als jemand sagte, das war wirklich so. In der Bevölkerung, unter uns Primarschülern, den Zehn-, Fünfzehnjährigen war es immer eine Tatsache, also diese Vergangenheit war uns auf alle Fälle dann bewusst. Vielen Schweizern war das bewusst.

Die Schweizer haben so was - die lassen sich nicht gerne was von außen sagen. Ich möchte das auch nicht verallgemeinern, aber diese nationalbewussten Schweizer vertragen das nicht. Der Erfolg der Schweizerischen Volkspartei hat unter anderem damit zu tun. Es ist unter anderem eine Reaktion auf den Umstand, dass wir dazu gezwungen wurden, mal vor unserer eigenen Türe zu wischen.

Die Schweizer sagen in letzter Zeit immer, sie hätten zu wenig Selbstvertrauen und zu wenig Nationalstolz. Ich hab aber eigentlich immer gefunden, die Schweizer hätten zu viel davon. Sie hätten sich zu besonders gefühlt. So traurig das ist, dass jetzt die Swissair, wie wir hier in Neudeutsch sagen, "gegrounded" wurde, so wohltuend wird es längerfristig sein für die Schweizer Mentalität, mal ein bisschen eins auf den Deckel gekriegt zu haben. Wir sind nicht die Gescheitesten, wir sind nicht die Besten, wir sind nicht die Sichersten; unsere Banken können Krisen haben, unsere Airline kann Krisen haben... Man darf es nicht so laut sagen, aber wir werden ja nur in Österreich gehört: Ich fand es wohltuend für die Schweiz, einmal einen Dämpfer zu kriegen.

Interessant ist, dass jetzt in der Schweiz ein Buch neu aufgelegt wird, ein Roman von einem Jakob Schaffner. Das Buch heißt "Johannes". Jakob Schaffner war ein glühender Anhänger des Nationalsozialismus und ein Befürworter des Anschlusses. Er hat auch als Bindeglied zwischen deutschnationalen Schweizern und Hitlerdeutschland fungiert. Unlängst ist es im Schweizer Fernsehen vom Schriftsteller Hugo Loetscher vorgestellt worden. Glauben Sie, dass das Wiederauflegen eines solchen Buches, das ja sehr kontroversiell ist, wieder Debatten in der Schweiz auslösen wird, eben um die Position der Schweiz in dieser Zeit?
Ich glaube nicht. Ich fürchte, die Schweizer halten diese Debatte für abgeschlossen.