Vorreiter der sexuellen Revolution

Kinsey - Die Wahrheit über Sex

Mit den so genannten Kinsey-Reports hat der amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey in den 1940er Jahren das sexuelle Verhalten der Amerikaner in bis dato unbekanntes Licht gestellt. Nun hat Regisseur Bill Condon sein Leben fürs Kino aufbereitet.

Kinseys eigene Sexualpraktiken haben auch die Beziehung zu seiner Frau belastet.

Für die einen - liberale Zeitgenossen - ist er ein Vorreiter der sexuellen Revolution, ein Befreier von sexueller Rückständigkeit durch das Aufbrechen von Tabus, für die anderen - christlich-konservative Kreise - ist er bis heute ein fehlgeleiteter Wissenschafter, der durch seine Forschungen die sexuelle Moral einer ganzen Gesellschaft untergraben hat.

Wie auch immer: Die Verdienste des Sexualforschers Alfred C. Kinsey bestanden darin, Dinge zu thematisieren, über die man zwar alles wissen wollte, aber bis dahin nicht zu hinterfragen wagte. Rund 18.000 Interviews hatte Kinsey im Lauf seiner Karriere gesammelt und damit in den 1940er Jahren zwei bemerkenswerte Studien erstellt: die so genannten "Kinsey-Reports".

Hochgradig persönlich motiviert
An den polarisierenden Meinungen über Kinsey hat sich US-Regisseur Bill Condon nicht vorbeigeschwindelt, doch er hat seinen Film vor allem als Charakterstudie angelegt. Er interessiert sich für Antriebsmotive, Arbeitsmethoden und Kinseys eigene sexuelle Vorlieben. "Kinseys unermüdliches Schaffen war hochgradig persönlich motiviert", meint Condon, denn Kinsey selbst hätte erst in seinen späten 20er Jahren den ersten Sex gehabt, eine Sache, die er anderen durch frühzeitige Aufklärung ersparen wollte."

Klima sexueller Repression

Kinsey als fanatischer Wissenschafter, der seine Mitarbeiter bisweilen rücksichtslos für seine Zwecke instrumentalisierte, der seine Bi-Sexualität offen zur Schau stellte und auch sein eigenes Familienleben zugunsten wissenschaftlicher Erkenntnisse aufs Spiel setzte: Bill Condons Filmporträt zeigt nicht nur die Erfolge, sondern auch die Schattenseiten eines ambivalenten Charakters.

Zerbrochen ist Kinsey nicht nur an seiner - vor allem empirisch motivierten und akademisch überstrapazierten - Sex-Besessenheit, sondern auch an einem politischen Klima sexueller Repression, das Hauptdarsteller Liam Neeson auch heute in den USA tendenziell wieder erkennen kann. "Die derzeitige Regierung will offensichtlich zurück in die Zeiten des Kalten Kriegs", so Neeson, "die Sexualforschung in den USA wird heute zunehmend in den Untergrund abgedrängt."

Vor allem sachlich
Wie zum Beweis derartiger Aussagen haben Fernsehsender zum Filmstart in den USA entsprechende Werbespots verweigert. Dabei macht Bill Condon weder aus Kinsey noch aus dessen Forschungsgegenstand eine Sensation, schafft keinen überhöhten und verklärten Kinohelden. Im Gegenteil, er nähert sich seiner Hauptfigur manchmal mit Ironie, manchmal mit Tragik, aber überwiegend mit moralfreier Sachlichkeit.

Kinsey - Die Wahrheit über Sex
USA, 2005
Mit: Liam Neeson, Laura Linney, Tim Curry, John Lithgow, Chris O'Donnell u. a.
Drehbuch und Regie: Bill Condon