Von Sex, Liebe und Alt-68ern

Leipziger Nachlese II

Sonntagabend ging die Leipziger Buchmesse zu Ende. Während Frankfurt die Messe des internationalen Buchmarkts ist, gilt Leipzig als die Messe für Publikum und Schreibende. Eine persönliche Rückschau von Ö1 Redakteur Michael Kerbler.

"Eine andere Muschiregel meiner Mutter war, dass Muschis viel leichter krank werden als Penisse." Schreibt sie da, Charlotte Roche, in ihrem pornographischen Roman "Feuchtgebiete". Und das ist einer von den harmlosen, wenn auch grammatikalisch korrekten Sätzen in diesem Buch. "Feuchtgebiete" hat schon eine Auflage von mehr als 180.000 Exemplaren erreicht. Offenbar gilt auch im Buchhandel: Sex sells.

"Scheidungskind mit Neigung zu Hämorrhoiden und Vorliebe für Analsex hält flammendes Plädoyer wider den allgemeinen Hygieneterror" urteilt ihre Schriftstellerkollegin und Germanistin Sabine Küchler ("Unter Wolken") treffend und mutmaßt, dass Roche sich mit dem Roman in die Reihe von großen Provokateuren von de Sade bis Elfriede Jelinek stellen wollte. Vergeblich.

1968 - 2008

Zu provozieren versuchte auch Götz Aly, der Historiker, der mit seiner These, die 68er-Bewegung habe faschistoide Tendenzen, manch wütende Reaktion erntete, sich zugleich aber brav in die 68er-Gedenkfeiern auf der und rund um die Buchmesse in Leipzig einreihte. Sein Satz, der monstranzartig herumgereicht wurde, lautet: "Ich sehe mein Buch als eine Störung der Heldengedenkfeiern des Rudi-Dutschke-Gedächtnisvereins." Der Buchtitel, der - irritierend bis verstörend - diesen Ausspruch ergänzt, heißt: "Unser Kampf".

Die Realität draußen in Leipzig ist unterdessen härter als jeder Aly-Spruch. Die Polizei patrouilliert sichtbar und stets in kleinen Kohorten, seit ein Bandenkrieg der Diskobesitzer nicht nur zum Abfackeln eines Tanzschuppens, sondern auch zum ersten Mord (oder Totschlag) geführt hat. Die Bevölkerung ist beunruhigt. Die NPD-Demonstration "für ein touristenfreundliches Leipzig, kriminelle Ausländer raus", die am Samstagnachmittag hätte stattfinden sollen, wurde gerichtlich untersagt. Aufatmen im Stadtzentrum.

Derweil bewegte sich draußen in den Messehallen ein ganz in weiß gekleideter Rainer Langhans, 1968-Kommune-1-Mitglied, ins Gespräch mit Dieter Moor vertieft - Narziss und Goldmund sozusagen - durch Zeit und Raum und vermischt Anekdoten und Analyse über die Aufbruchsphase der Studentenbewegung.

Aber auch das kann den wirklich großen Themen der Buchmesse nichts anhaben: Das Jahr 1968.

Es war mehr als die Stundenrevolte. Es war das Jahr in dem der Vietnamkrieg in eine entscheidende Phase eintrat - die "Tet"- Offensive im Jänner, das Massaker von My Lai im März bis zur Angelobung von Richard Nixon im Dezember. Das Jahr, in dem Martin Luther King und Robert "Bobby" Kennedy ermordet wurden. Auf Rudi Dutschke und Andy Warhol ein Attentat verübt wurde. Und in dem der RAF-Terror beginnt. Der Prager Frühling erfriert im Eishauch der Warschauer Pakt-Staaten-Intervention. Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, hat ein erfreulich distanziertes Buch über dieses Jahr geschrieben, das offenbar noch immer nicht vorbei ist.

Liebe und Lust

Und Martin Walser. Ja auch der war da, der deutsche "Großschriftsteller" - oder wie mancher der Jungen aus der Zunft und aus dem deutschen Feuilleton über ihn und Günter Grass formulieren - die Herren aus der "Flakhelfergeneration" mögen doch endlich ... Warum eigentlich? "Ein liebender Mann" hat nichts von dem Lüsternen der "Angstblüte", nein, er rührt an. Rührt an dem Tabu, das alte Menschen lieben wollen dürfen können mögen. Und Angst davor haben, selbst nicht mehr geliebt zu werden. Walsers Roman über Goethe hätte auch "Die Leiden des alten Werther" heißen können.

Liebe war überhaupt eines der großen Themen auf dieser Buchmesse. Feridun Zaimoglu etwa schrieb vom "Liebesbrand", Elisabeth Edl übersetzte großartig Stendhals "Kartause von Parma". Beide schafften es auf die Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse, so wie der Leipziger Clemens Meyer mit seiner Story-Sammlung "Die Nacht, die Lichter", die schließlich - verdient - prämiert wurde.

Lesen nach PISA
Groß war auch das Interesse an Kinder- und Jugendliteratur, ein Feld, auf dem sich Leipzig immer schon verdient gemacht hat. Und deshalb war in manchen Gängen der Messehallen kein Durchkommen. Dort nämlich wo an den Wänden der Buchverlage "Harry Potter" geschrieben stand und "Tintentod" erreichte die Menschendichte kurzfristig das Ausmaß wie in der U-Bahn von Tokyo um 7:15 Uhr. Es fehlten bloß die weißbehandschuhten Männer, die die Fahrgäste in die Waggons schieben. Aber nicht alle Kinder, die da mit großen leuchtenden Augen zu den bunten Bücherpyramiden drängten, können sich ein Buch leisten. Es gibt einfach zu viele arme Kinder in Deutschland. Mindestens 14 Prozent der Kinder - darauf wies der Arbeitskreis für Kinder- und Jugendliteratur auf der Buchmesse Leipzig hin - gelten als arm und können sich deshalb "Harry Potter" nicht kaufen. Kinderbücher sind trotzdem ein Renner. Denn wegen der schlechten Ergebnisse der Pisa-Studien kaufen deutsche Mittelschichteltern wieder mehr Bücher. Umsatzplus im Jahr 2007: satte 24 Prozent. Auffallend: an den Ständen der Verlage drängten sich an all den Tagen zahlreiche Schulklassen und vor allem am Wochenende Gothic- und Schwarzkittel-Manga-Fans in Richtung Comic-Forum.

Mit anderen Augen
Was von den regnerischen Tagen ganz grundsätzlich in Erinnerung bleibt, ist die Stimmung, die in den Gängen, auf den Gesprächsforen und in den Verlagsständen der Messe herrschte. Offenheit. Toleranz. Neugierde und - vor allem -Gesprächsbereitschaft. Und eine - im Vergleich zur Buchmesse in Frankfurt - Entschleunigung, die Begegnungen, auch zufällige, möglich machte. Etwa im Wiener Kaffeehaus, wo nicht nur der beste Kaffee in Leipzig und Umgebung kredenzt wurde (samt Linzer Augen: von wegen Kulturhauptstadt Linz ’09), sondern sich auch österreichische Autorinnen und Autoren wie Eva Rossmann, Martin Pollack, Albert Wendt, Evelyn Steinthaler und Sabine Gruber, Hans Platzgumer und Verleger wie Lojze Wieser - um nur einige wenige zu nennen - ihre Bücher präsentierten. Immerhin: 160 heimische Verlage waren in Leipzig waren dabei, vermerkte Alexander Potyka, Präsident des Hauptverbandes des österreichischen Buchhandels, mit Genugtuung.

Das Kaffeehaus diente auch als Begegnungsort von Nachbarn aus Slowenien, Kroatien, aus der Türkei, aus Litauen und Lettland. Kroatien war übrigens Gastland auf der Messe - mehr als 40 Autoren und Autorinnen aus diesem Land waren nach Leipzig gekommen. Die meisten Bücher der Gastlandautoren kreisten um die Träume und Albträume von Mitteleuropa. Auch Delimir Resicki flüstern Engel Warnungen über die Tragödie zu, in der Mitteleuropa enden würde. Sybellinisch raunen sie: "Wenn du Zündhölzer hast / dann ist es leicht / eine Nadel im Heuhaufen zu finden." Die Tragödie besteht wahrscheinlich darin, meint der deutsche Publizist Gregor Dotzauer, dass alles Entscheidende bereits geschehen ist. Resicki weiß, wovon er dichtet. Er stammt aus Osijek, jener mehrheitlich von Kroaten bewohnten Stadt nahe dem Zusammenfluss von Drau und Donau, die serbische Truppen bis 1995 mehrfach zu erobern versuchten. Vergeblich.

Mehr zu Götz Alys "Unser Kampf" in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Norbert Frei, "1968 - Jugendrevolte und globaler Protest" , dtv

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Leipziger Buchmesse