Von der Macht des Schreibens

Ja, das Schreiben und das Lesen

Noch immer beherrsche ich die Regeln der neuen Rechtschreibung nur höchst unvollständig. Wenigstens kann ich mich mit der Erkenntnis trösten, dass das nicht die einzige Irritation ist, die vom Schreiben ausgeht, denn: Schreiben kann verunsichern.

Wahrscheinlich sei es die Gicht, murmelten die besorgten Studenten einander zu, oder der sportliche Professor habe vielleicht einen Schiunfall gehabt, und sei dabei auf die Hand gefallen. Was sonst könnte den bedeutenden Mediävisten und weiland Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Herwig Wolfram dazu bringen, Kugelschreiber, Feder oder Bleistift mit starr ausgestreckten Fingern wie ein Halbgelähmter übers Papier zu führen, und nicht gerade Schönschrift zu produzieren?

Nur seine Assistenten lächeln wissend - sie kennen Ihren Lehrer als einen Gelehrten, der - obwohl höchst weltgewandt und modern gesinnt- zuweilen mit seinem Kernfach, dem Frühmittelalter, dermaßen verschmilzt, dass es sie nicht wundern würde, wenn er ihnen eines Tages auf Gotisch statt auf Deutsch einen guten Morgen wünschte.

Tatsächlich führt Herwig Wolfram den Griffel ganz bewusst ein wenig seltsam. "Ich hab' mir von alten Buchilluminationen abgeschaut", erzählt er, "wie dort Schreiber dargestellt werden. Die legen den Stilus zwischen vier Finger der flachen Hand, wobei der Daumen führt."

Auf diese Art kann der Professor sogar beim Verfassen banaler und höchst gegenwärtiger Einkaufszettel in "seine" Zeit, das Mittelalter, eintauchen. Dass er dabei manchmal verwundert angeglotzt wird, muss er wohl ebenso in Kauf nehmen, wie sich der Journalist Ernst Grissemann vor einigen Jahren daran weiden durfte, nur mit einem kleinen Notizblock und einem alten Kugelschreiber bewaffnet, Angst und Schrecken in die Welt eines Wiener Bundesministeriums gebracht zu haben.

Angst und Schrecken: Grissemann

Es begab sich, dass Grissemann als Zuschauer eines der üblichen ministeriellen Festakte mit Reden und Kammermusik eingeladen wurde. Jeder dort kannte selbstverständlich Ernst Grissemann, "Die Stimme" des österreichischen Radios, den intellektuellen Schöpfer des Popradiosenders Ö3, den langjährigen Kommentator von Neujahrskonzert und "Song-Contest", und schließlich Hörfunkintendanten.

Als er - stilecht drei Minuten zu spät - in den Festsaal eintrat, drehte sich natürlich alles nach der knarrenden Türe um. Ah da schau her, der Grissemann, werden sich die meisten gedacht haben, so auch jener Sektionschef, der gerade das Rednerpult innehatte. Dem flotten Grissemann wurde die Rede des Beamten offenbar zu lange, denn er fasste einen teuflischen Entschluss.

Wohl wissend, dass jede seiner Gesten genau registriert wurde, begann er, beständig sein Haupt zu schütteln und seinen Mund zu einem feixenden Grinsen zu verziehen, so als ob er hier etwas schier Unglaubliches zu hören bekäme. Das wirkte auf den Sektionschef umso beunruhigender, als er streng nach Protokoll völlig unverfängliche Floskeln von sich gab, die seines Wissens nach kein Widerspruchspotential enthielten.

Schwitzend und ohne seinen Blick von dem Kopf schüttelnden Grissemann gewendet zu haben entstieg der Arme schließlich dem Pult, und sein Chef, der Minister erklomm es an seiner statt. Auch er ließ Ernst Grissemann nicht aus den Augen ,denn immerhin wurde doch auf diesen Radio-Mann überall gehört, war er vor kurzer Zeit noch einer der mächtigsten Medienmenschen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gewesen, von dem sich die Politiker abhängig wähnen wie Entwässerte von einer Infusion.

Der entscheidende Schlag

Nun holte Grissemann, der die Veranstaltung konsequent abkürzen wollte, zum entscheidenden Prankenhieb aus. Da der Minister zu seiner Begrüßung anhob, zog der gevifte Grissemann einen kleinen Notizblock hervor, und begann - zu schreiben!

Nicht schüttelte er mehr den Kopf, kein Feixen, keine Grimassen. Er schrieb schlicht. Da traten dem bedauernswerten Minister die Schweißperlen auf die Stirn. Er nahm die Stimme zurück, stotterte leicht und sprach sogar den Namen Grissemanns aus, dessen Träger er hiermit besonders willkommen heiße. Grissemann ließ sich davon nicht beirren, behielt seine eiserne Miene und schrieb und schrieb und schrieb - eifrig, doch gelassen.

Irgendwie hatte man dann allgemein den Eindruck, dass der Minister verdächtig rasch zu Ende war. Das Buffet wurde eröffnet und Sektionschef wie Minister umschlichen, nicht wissend, was sie böses gesagt hätten, wie getretene Hunde den guten Ernst, der mir großzügig einen exklusiven Einblick in sein Notizheft gewährte: Es enthielt die Grissemann'sche Telefonnummer, circa hundertzehnmal reproduziert und durch kleine Nasenmännchen ergänzt, die der Schreiber am Rande hinzugefügt hatte. Sie waren den Rednern nicht unähnlich.

Wer schreibt übt also - durch die Tätigkeit an sich - Macht aus. Egal ob in alter, neuer, oder gar keiner Rechtschreibung. Und das sei jenen zum Trost gebracht, die sich mit der neuen Variante des Schriftdeutschen so gar nicht abfinden können.