Das Leben gegenüber

Kingpeng

Mit "Kingpeng" ist Linda Stift ein eindrucksvoller Debütroman gelungen: Mikroskopisch und unerbittlich seziert sie die erträumte Welt der Reichen und doch nicht ganz so Schönen; detaillierte Beobachtungen aus dem Alltag und witzige Einfälle tragen die Handlung.

Wir nennen die Terrasse gegenüber Terrakottainsel. Bei Anbruch der Dunkelheit schalten sie die Scheinwerfer ein. Die gestreifte Hollywoodschaukel und die Rattankorbsessel sind in der Dämmerung jetzt meist besetzt. Gegen Mitternacht tauschen sie die Scheinwerfer durch Kerzenlicht aus. Dann kann man drüben außer den unruhigen Lichtflecken nichts mehr erkennen.

Ohne große Umschweife bringt Linda Stift ihre Leser mitten ins Geschehen der hochsommerlichen Alltagsgeschichte. Von einem Balkon einer Wiener Innenstadtwohnung, zwischen Küchenkräutern und Tomatenstauden, spekulieren Kinga und Nick über das luxuriöse Leben auf der gegenüberliegenden Terrasse. Zum Broterwerb betreiben die Geschwister ein Partyservice. Sie kocht und er kümmert sich um die Aufträge. Abwechselnd wird berichtet.

Geschwisterliebe

Seit dem Unfalltod ihres Verlobten vor acht Jahren lebt Kinga mit ihrem Bruder zusammen. Er kümmert sich liebevoll um sie, nicht zuletzt wenn sie unter ihren rätselhaften Ausfällen leidet. Als Kinder haben sie sich Brause von der Zunge geleckt und oft gemeinsam in Nicks Bett geschlafen. Doch auch noch als Mittzwanziger pflegen die beiden ein sehr intimes, an Inzest grenzendes Verhältnis. Wobei der Kern der Dinge immer der Fantasie des Lesers überlassen bleibt.

Nick küsst mich manchmal in der Öffentlichkeit und wir tun so, als wären wir ein Liebespaar. Es kommt mir immer kindisch vor. Wenn die Leute nicht wissen, dass wir Geschwister sind, geht die Provokation ins Leere, und wenn sie es wissen, dann sind sie viel weniger schockiert als Nick sich erhofft. Aber es macht mir Spaß. Ich küsse ihn gerne.

Von zuckerlrosa bis dunkelviolett

Die Einladung der exzentrischen Terrakottainsel-Bewohner von gegenüber öffnet Nick und Kinga das Tor zur High Society. Von zuckerlrosa bis dunkelviolett färben sich die schrägen Facetten. Linda Stift begnügt sich in ihren Schilderungen nicht mit einer rein äußerlichen Betrachtung, sie rückt ihren Figuren wortwörtlich auf den Leib.

Pavel muss direkt hinter der Tür gestanden sein. Er sagt kein Wort, streicht stattdessen mit der weißen Handschuhhand meine Haare zur Seite und küsst mich auf das linke Ohr. Ich empfinde es wie einen Schlag gegen den Magen, nicht wie eine Zärtlichkeit, so unerwartet ist es. Der Essig-Schweiß-Geruch kommt in einer einzigen starken Welle. Es muss das Lederband seiner Uhr sein, das diesen Geruch ausströmt, immer wenn er mit dem Arm eine ausholende Bewegung macht.

Detaillierte Beobachtungen aus dem Alltag

Während Kinga ein Auge auf Pavel, den jungen Butler der Ziervogels wirft, macht sich Nick an die Hausherrin heran, um neue Aufträge zu aquirieren. Mikroskopisch und unerbittlich seziert die Autorin die erträumte Welt der Reichen und doch nicht ganz so Schönen.

Wer mit wem welche Spielchen treibt, bleibt unbeantwortet. Kausale zusammenhänge werden angedeutet und sind der Fantasie des Betrachters überlassen. Detaillierte Beobachtungen aus dem Alltag und witzige Einfälle tragen die Handlung. In umkomplizierter Alltagssprache bringt die Autorin das seltsame Leben unserer Gesellschaft auf den Punkt. Die fehlenden Tempowechsel und die streng chronologische Vorgehensweise unterstreichen das Gefühl der Unausweichlichkeit und die Schwere der Handlungen. Mit "Kingpeng" ist Linda Stift ein eindrucksvoller Debütroman gelungen.

Buch-Tipp
Linda Stift, "Kingpeng", Deuticke Verlag, ISBN 3552060081