Überlegungen von Franz Schuh

Zeitschriftenrundschau

Franz Schuh, Österreichs Vorzeige-Kulturpublizist, liest gerne und viel. Bücher, Zeitungen, Zeitschriften. Da kommt ihm viel unter, das ihn nachdenklich stimmt. Zum Beispiel: Was "Dienen" und "Verdienen" gemeinsam haben - und trennt.

In einer Talk-Show hörte ich eine Dame, die angeblich gute Geschäfte laufen hatte, sagen: WIR, wir leben in einer Leistungsgesellschaft, und in einer Leistungsgesellschaft kann man viel verdienen, und im Verdienen steckt das Wort Dienen, und je mehr, sagte die Dame, man dient, desto mehr verdient man!

Ich war verblüfft, nicht weil ich für den aufrechten Gang bin und gegen das Dienen, auch nicht weil ich für das Dienen bin und es nicht durch den Zweck des Verdienens mir entweihen lassen möchte. Gutes Dienen ist ja gratis und umsonst.

Verblüfft war ich, weil ich gerade ein Buch las, in dem genau diese Verknüpfung von Verdienen und Dienen als Maxime zur Erziehung eines Sohnes diente: Dieser solle sich gut kleiden, einen anständigen Charakter aufweisen, Tag und Nacht nach einer Stelle suchen - dann würde er eine finden und einem glänzend bezahlten Berufsleben in beglückender Subordination stünde nichts mehr im Wege.

Das Buch "Tod auf Kredit" von Ferdinand Céline führt vor, dass das überhaupt nicht funktioniert. Die Handlung spielt vor dem Ersten Weltkrieg und etwas anderes als kostenlose Arbeitskräfte wünschten die Arbeitgeber damals nicht - dagegen konnte keiner andienen. Célines Bücher erleben heute vielleicht deshalb eine Renaissance, weil zumindest eine mögliche Zukunft unserer Gesellschaft die sein könnte, dass die Unterschiede von Arm und Reich sich radikalisieren und wieder einmal absolut unüberbrückbar werden. Der "Sozialstaat" war eine der historischen Antworten auf Zustände, wie sie Céline wahrhaftig schilderte.

Die alte soziale Frage

Am 4. Jänner dieses Jahres - so fängt ein Jahr gut an - erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein kurzer, aber gewichtiger Aufsatz mit dem Titel: "Die alte soziale Frage. Ende eines Traums: Es gibt wieder Arme und Reiche im Land."

Der Autor dieses Aufsatzes heißt Henning Ritter, und folgerichtig ist er auch der Verfasser des ausgezeichneten Buches "Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid"; merkwürdig, wie wenig intensiv dieses Buch besprochen wurde - und in Österreich wurde es meines Wissens schon gar nicht beachtet. Ich glaube, dass ein soziales Phänomen wie das der Entsolidarisierung unter anderem auch den simplen Grund hat (und zum Teil seine Rechtfertigung daraus bezieht), dass Menschen selten, jedenfalls weniger oft als noch vor zehn, fünfzehn Jahren, die Erfahrung von Solidarität machen. So entsteht ein Regelkreis: Man erfährt nichts Solidarisches, wer schert sich schon um einen!?, deshalb schert man sich auch um keinen, und in diesem Sinne stimmt man der Entsolidarisierung am Ende auch politisch zu. Henning Ritter denkt gewiss differenzierter und vor allem in größeren Zusammenhängen:

Der Reiche und der Arme gehören nicht umsonst zu den ältesten Figuren der sozialen Mythologie. Sie schienen eine Zeit lang aus der modernen Gesellschaft getilgt infolge der sozialen Maßnahmen, die einen ständigen, wenn auch minimalen Ausgleich zwischen den Enden des sozialen Spektrums herbeiführten. (...) Die Armen sind in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend staatsloyal gewesen. Aber auch der Reichtum selbst bot in diesen Gesellschaften weniger Angriffspunkte für Aggressionen als in älteren gegliederten Gesellschaften, das sind solche ohne soziale Mobilität, in denen man keine Hoffnung hegen kann, von unten nach oben zu gelangen. (...) Die Verschonung des Reichtums von Neid, Kritik oder Hass, ein auffallendes Kennzeichen der gegenwärtigen Gesellschaft , ist eine indirekte Folge des Umfangs der Sozialleistungen, der Armenfürsorge und der Spendabilität, die sie in den zurückliegenden Jahrzehnten unter Beweis stellte. (...) Die Grenzen der Leistungskraft des Wohlfahrtsstaates beginnen sich am Horizont abzuzeichnen. Damit kehrt aber auch die alte Feindschaft von Arm und Reich zurück, die frühere Gesellschaften periodisch in ihrer Existenz bedrohte. (...) Auch im System des Fürsorgestaats kann die im Stich gelassene Armut wiederkehren. Das wäre dann nicht etwa die Stunde privater Wohltätigkeit, sondern die Krise jener staatlichen Ordnung, die sich mit der Lösung des Problems der Armut in das Buch der Geschichte eintragen wollte.

Die Ironie-Fraktion

Es ist interessant zu sehen, wie angesichts von Analysen, die die Zukunft nicht rosig ausschauen lassen, sich in Deutschland eine Ironie-Fraktion herausgebildet hat. Die Ironiker fassen nicht die analysierten Sachverhalte ins Auge, sondern sie fokussieren die Analytiker, unter denen sie sich nicht die Klügsten aussuchen. Die Ausgesuchten - ein gefundenes Fressen - werden dann einem mehr oder minder virtuosen Spott ausgesetzt, ungefähr von der Art: Es zürnt und es unkt von morgens bis abends und auch zur Mitternacht hört der Jammer nicht auf - die Welt geht unter und im Fernsehen spielen's auch nix G'scheites!

Der Spott, zumeist halbwegs berechtigt, hat aber die Tendenz, Bedenken überhaupt lächerlich erscheinen zu lassen, was sich gewiss sofort ändert, wenn so ein Ironiker von irgendwas, über das er früher nur lachen konnte, selber einmal "betroffen" ist. Das werden die ärgsten Tragiker, wird einmal der publizistische Markt so eng, dass man auch mit der Ironie nichts mehr verdienen kann.

Eine Analyse wie die von Henning Ritter ist dadurch charakterisiert, dass sie über die Gesellschaft als Ganzes ein Urteil spricht. "Das Ganze" ist ein klassisches methodisches Problem mit ethischen Implikationen, die in der Zeitschrift "Merkur" vom Februar 2005 der Philosoph Christoph Türcke diskutiert. Wie ernsthaft ein Denken sei, so Türcke,

dafür ist ein guter Prüfstein, wie es sich zum gesellschaftlichen Ganzen stellt. Dessen Komplexität und Detailreichtum übersteigt zwar die Fassungskraft jedes menschlichen Hirns, aber (...) das gesellschaftliche Ganze hat durchaus eine erkennbare Physiognomie. (...) Der Versuch, eine Vorstellung vom Ganzen zu geben, indem man die charakteristischen Züge seiner Physiognomie herausarbeitet, ist zwar stets riskant, aber nicht an sich schon Selbstüberhebung. Dem saturierten Gestus von Relativismus und Ironie, der immer schon um die Vergeblichkeit von allem Wahrheitsstreben weiß, ist er unbedingt vorzuziehen. (...) Zwischen echten Vorbegriffen des Ganzen und Pauschalierungen, die Partikulares aufspreizen, unterscheiden zu lernen, gehört zu den dringlichsten Aufgaben einer gegenwärtigen Kritik der Urteilskraft.

Zusammenfall der Gegensätze

Diese Urteilskraft ist - wie zu allen Zeiten - auch gegenwärtig mit einer Reihe von dringlichen Aufgaben konfrontiert. 2003 hat Christoph Türcke ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Fundamentalismus - maskierter Nihilismus". Dieser Titel spricht eine Dialektik, einen Zusammenfall der Gegensätze, an: Was fundamentalistisch sich geriert, also auf festen Werten gründend, ist "in Wahrheit" nichts als ein Nihilismus, eine grausame Verachtung der Werte, derer die Gesellschaft und die Einzelnen zum Leben bedürfen. In der Zeitschrift "Psyche" vom Februar 2005 arbeitet die Psychoanalytikerin Ruth Stein diese Dialektik auf einer psychologischen Ebene heraus. Es geht ihr um die psychische Verfassung religiös motivierter Selbstmordattentäter, wobei eben der Widerspruch von Mord und religiöser Motivation das zu begreifende Problem darstellt. Wie kommt es zu dieser krankhaften Kälte, mit der religiös motivierte Terroristen morden? Der Widerspruch wird stärker, liest man den Brief, den einer der Attentäter vom 11. September hinterlassen hat: Darin ist in einem gelassenen, ja freudigen Ton von Liebe die Rede, von der reinen Liebe zu Gott und dem alles überstrahlenden Wunsch, Ihm zu gefallen. Ruth Stein versucht zu zeigen, wie Vorstellungen dieser Art, mystische Erfahrungen, dazu dienen können, Selbsthass und Neid in Liebe zu Gott umzumünzen,

wobei es sich um eine Gottesliebe handelt, die der Auslöschung jener Teile des Selbst Vorschub leistet, die im Widerspruch zur zwanghaften Reinheit stehen (...) Ein korruptes, hasserfülltes, verfolgendes Über-Ich wurde in das Bild des "einzigen Gottes" installiert. Indem sie auf diese Gottesfigur ihren eigenen korrupten (besiegten und wieder auferstandenen) Willen projizieren, fühlen sich die Terroristen von allen moralischen Schranken entbunden und berechtigt, Leben zu zerstören. (...) Ein nächster Schritt setzt ein, wenn Macht und Verachtung in Verzückung und tiefe absolute Liebe zu der höheren göttlichen Macht transformiert werden. (...) Die Dehumanisierung der Menschen, die getötet werden sollen, wird durch die Spiritualisierung des Tötens ergänzt. (...) Gott will, dass sie getötet werden, und der Mörder wird zu einem besseren Menschen, wenn er Gottes Willen auf Erden erfüllt.

Was auf diese Weise ins Werk gesetzt wird, kann man "Das Böse" nennen, eine Kategorie, der nachgesagt wird, dass sie zu vereinfachend sei, um das damit Gemeinte in den Begriff zu bekommen: Das Böse brächte das Böse zum Verschwinden! Man kann aber auch sagen, es sei die richtige Kategorie, weil "Das Böse" von einer Intensität spricht, die mit den üblichen Bezeichnungen wie "kriminell" oder "soziopathisch" nicht gefasst werden kann.

Nachklang der Banalität des Bösen

Vor Jahren - ich hab's leider nur noch vage in Erinnerung - las ich in einer dieser Salzkammergutzeitungen den Artikel jenes Polizeibeamten, der - in Zusammenarbeit mit dem Innenminister - nach dem Krieg Adolf Eichmann für Österreich entsorgte: Sie haben ihm damals einfach die österreichische Staatsbürgerschaft aberkannt und so wurde Eichmann nachdrücklich Deutscher. Ich empfand den Artikel als Nachklang der Banalität des Bösen - und so einen Klang hörte ich vor kurzer Zeit wieder. In der ausgezeichneten, erst jüngst gegründeten österreichischen Zeitung "Datum" las ich ein Interview mit Sepp Forcher. Von Forchers Fernseh-Sendung "Klingendes Österreich" habe ich kaum eine versäumt; durch ihn sind mir, einem gehfaulen Menschen, die Berge der Heimat so nah.

In dem Interview der vorjährigen Juli/August-Nummer von "Datum" erzählt Forcher, dass er ein "Nazibua" war, und er erzählt, wie er allmählich aus diesem Wahn erwachte. Dabei kommt die Sprache auf einen amerikanischen Vernehmungsbeamten, der, so Forcher, die Frage, was er denn von Österreich hielte, wie folgt beantwortete:

"In Norddeutschland ist es so: Fragst Du jemanden, ob er bei der Partei war, sagt der JA . Fragst Du in Bayern wen, sagt der NEIN. Fragst Du in Salzburg wen, sagt der: ICH NICHT, ABER DER DA! Das trifft leider zu. Das tut weh, aber es ist so."

Und darauf fragten ihn die Interviewer, woran denn das läge, an der österreichischen Mentalität? Und Forcher antwortete: "Offenbar sind wir ein Volk von Denunzianten."

Nö, sind wir nicht, aber dass bei uns sogar der kommerzielle Patriotismus solche Gedanken im Hintergrund hat, das, sehr geehrte Damen und Herren, ist doch verblüffend.

Mehr zu "Diagonal" in Ö1 Programm

Mehr zur Musik der Sendung in oe1.ORF.at

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Ferdinand Céline, "Tod auf Kredit", Rowohlt Verlag, ISBN 3499238470

Henning Ritter, "Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid", C. H. Beck, ISBN 340652186X

Christoph Türcke, "Fundamentalismus - maskierter Nihilismus", Klampen Verlag, ISBN 3934920314

Links
FAZ - Artikel von Henning Ritter
Merkur - Philosophiekolumne von Christoph Türcke
Psyche - Artikel von Ruth Stein
Datum