Experimente ohne Protokoll

Der Menschenversuch - Teil 1

Experimente werden im Maßstab 1:1 und in Echtzeit durchgeführt. Sind wir alle Teil eines kollektiven Experiments? Des größten Menschenversuchs aller Zeiten? Der Philosoph und Anthropologe Bruno Latour meint: ja. Der ganze Planet ist ein Laboratorium.

Experimente werden im Maßstab 1:1 und in Echtzeit durchgeführt. Man denke nur an die Erderwärmung. "Selbstverständlich finden in der Klimaforschung auch viele Simulationen statt; komplexe Modelle werden in riesigen Computer durchgerechnet, doch das eigentliche Experiment geschieht mit uns, durch die Einwirkung eines jeden von uns auf uns alle, unter Beteiligung der Ozeane, der Atmosphäre und sogar des Golfstroms, wie einige Ozeanographen behaupten". Das ist, so Bruno Latour im Buch "Kultur im Experiment", ein Experiment, an dem wir alle beteiligt sind.

Die Trennung zwischen dem wissenschaftlichen Labor innerhalb von Mauern und einer politischen Situation außerhalb verschwimmt immer mehr. "Wir sind jetzt alle in kollektive Experimente verstrickt, in denen Menschen und nicht-menschliche Wesen zusammengemengt werden - und niemand ist verantwortlich. Über dieses Experimente, die mit uns, von uns, für uns durchgeführt werden, wird kein Protokoll geführt." Soweit der Philosoph und Anthropologe Bruno Latour.

Verrückte Experimente

Wenn man die Geschichte des Menschenversuchs studiert, stößt man auf ganz abenteuerliche Dinge. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden Selbstversuche noch ganz selbstverständlich bei der Entwicklung von Medikamenten eingefordert.

Der 72-jährige Mediziner Charles-Èdouard Brown-Séquard experimentierte zum Beispiel 1889 mit einem Saft aus gemahlenen Meerschweinchen-Hoden - sie sollten ihn jünger machen. 1774 gingen zwei Ärzte im Dienste der Wissenschaft exzessiv in die Sauna, um die Körperreaktionen zu beobachten. Der Schweizer Journalist Reto U. Schneider sammelte diese und viele andere verrückteste Experimente für sein Buch und verfolgte, wie es Forschern und Versuchspersonen nach den Experimenten erging.

Kulturgeschichte-Projekt

Die Interdisziplinäre Emmy-Noether-Forschungsgruppe an der Universität Bonn untersucht die Darstellung von Menschenversuchen in Wissenschaft, Literatur und Film. Wie können derartige Grenzerfahrungen dargestellt werden?

Interessant ist unter diesem Blickwinkel das "Stanford Prison"-Experiment aus dem Jahr 1971, bei dem Studenten in die Rolle von Gefangenen und Wärtern schlüpften. Damals wurde der Versuch mit Überwachungskameras gefilmt. Das Experiment gilt deshalb als Vorläufer der Reality-TV oder Big-Brother-Fernsehformate. Allerdings mit einem Unterschied: die Teilnehmer heute wissen, dass alles, was sie sagen, wenig später im Fernsehen zu sehen sein wird.

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Schmidgen/Geimer/Gierig (Hg.), "Kultur im Experiment", Kadmos Verlag 2004, ISBN 3931659666

Reto U. Schneider, "Das Buch der verrückten Experimente", C. Bertelsmann Verlag 2004, ISBN 3570007928