Fall und Aufstieg 1914-2001

Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

Harold James von der Princeton University hat versucht, das 20. Jahrhundert in seinen Eigenheiten und Entwicklungslinien zu charakterisieren. Er stellt gleich am Anfang fest, dass die Vorgänge in Europa von weltweiten Kontexten abhängig wurden.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten Modernisierung, Ideologisierung und Militarisierung zu den großen Geschichtskatastrophen, die das menschliche Zivilisationsprojekt als solches in Frage stellten. Umso erstaunlicher war die rasche Erholung Westeuropas nach 1945, die ein Bekenntnis zu Marktwirtschaft und Demokratie mit sich brachte. Zeitverzögert scheiterten auch die kommunistischen Diktaturen und bekannten sich zu den westlichen Prinzipien, sie kehrten nach "Europa" zurück und in die Zivilgesellschaft ein.

Seit 1991 wird das 20. Jahrhundert häufig als das "kurze 20. Jahrhundert" bezeichnet, zumindest von denen, die dem Topos der Einheitlichkeit eines Jahrhunderts zuneigen. Es reichte von 1914, als ein Weltkrieg zur Russischen Revolution und zum italienischen Faschismus führte, bis 1991, als der Kommunismus seine letzte Ruhestätte neben dem Faschismus auf dem Friedhof der Ideologien fand. Im neuen Jahrhundert ist es möglich, einen anderen Blickwinkel zu gewinnen. Dieses Buch entwirft eine Sicht des 21.Jahrhunderts auf das gerade vergangene.

Ein "neues Weltverständnis"

Die europäische Geschichte des 20. Jahrunderts ist Teil des "amerikanischen Jahrhunderts", sowohl, was die direkte Intervention der Vereinigten Staaten betrifft als auch im Hinblick auf jene Ideen, die sich nach den Geschichtskatastrophen in Europa durchzusetzen begannen, nämlich Gleichheit, Individualismus, Frauenemanzipation und Urbanisierung. Nicht, dass wir hier in Europa davon so gar nichts gewusst hätten, schließlich gingen diese Ideen von hier aus als Importgut nach Amerika, aber nach 1945 erhielten wir sie als bestimmenden politischen Auftrag zurück.

Wie es zu einem "neuen Weltverständnis" kam, erläutert Harold James auf 500 eng gedruckten Seiten, indem er von Irland bis zum Ural einschließlich der Türkei, aber ohne den Nahen Osten und Nordafrika alle Länder und Regionen einer detaillierten Analyse im Hinblick auf ihre politische, wirtschaftliche und sozial-kulturelle Entwicklung unterzieht und dabei die Unterschiede in den einzelnen Regionen herausarbeitet.

Der Stoff ist allerdings so reichhaltig und mit Details überladen, dass es manchmal verwirrend, weil ungeordnet wirkt. Auch gibt es sachliche Fehler. In seiner Analyse des vielfachen amerikanischen Einflusses in Europa neigt der Autor zu einer unkritischen Haltung, die an der Komplexität und Schwierigkeit im Umgang mit dem amerikanischen Machtpotenzial manchmal vorbei geht. Der als "amerikanisch" geltenden militärischen Macht, Ökonomie und dem Massenkonsum versuchte das antifaschistische Europa einen "kulturellen" Widerstand entgegen zu setzen, der nicht zuletzt Eingang in die 68er Bewegung fand. Durch die starke emotionelle Abwehr alles "Amerikanischen' blieb man gerade in Intellektuellenkreisen lange auf dem linken Auge blind, was zu einer Verharmlosung der Verbrechen des Kommunismus führte, die erst nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regimes in seiner Tragweite bekannt wurden.

Keine großen Analysen

Über das schwierige Verhältnis der linksliberalen europäischen Intelligenz zur Projektionsfläche USA hätte man gerne mehr erfahren, doch große Analysen gehören nicht zur Stärke des Autors Harold James. Er bleibt der beschreibenden Faktengeschichte verhaftet.

Mit diesem Buch verfolgt der Autor die konkrete Absicht, ein neues Standardwerk für angelsächsische Hochschulstudenten über die europäische Zeitgeschichte vorzulegen. Es soll andere Lehrbücher, die noch keine Gesamtbeurteilung des Jahrhunderts vornehmen konnten oder dies mit Hilfe unbrauchbar gewordener Methoden taten, ablösen. Instinktiv aber wünscht man sich bei der durchaus spannenden Lektüre nicht unbedingt in die Rolle eines Prüflings.

Buch-Tipp
Harold James, "Geschichte Europas im 20.Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914-2001", aus dem Englischen übersetzt von Udo Rennert, Martin Richter und Thorsten Schmidt, C.H. Beck Verlag, ISBN 3406516181