Der Zustand der Gesellschaft

Kirillow

Eine Gruppe Studenten in Frankfurt, einige russische Einwanderer und ein Traktat über den Zustand der Gesellschaft, das ein Russe namens Andrej Kirillow verfasst hat: Das sind die Zutaten, aus denen Andreas Maier seinen neuen Roman geschaffen hat.

Nein, sagte Boris grimmig, es gebe nichts zu erzählen. Er habe zu Andrej übrigens keinen Kontakt. Andrej sei ihm egal. (Widerwillig:) Peter sage immer wieder, es gebe in Deutschland einen Freund, der ihn sehr an Andrej erinnere, er hier. (Boris deutete auf Kober.) Peter sage, sogar die Augen Kobers erinnerten an Andrej, übrigens, kurz gesagt, das sei völlig unerheblich. Andrej, interessant, rief Eva, er heißt also Andrej. Andrej Kirillow, sagte Anton.

Das Manifest, ein zentrales Diskussionsthema

Nicht ganz zufällig ist Andrej Kirillow ein Namensvetter des philosophischen Selbstmörders, den Dostojewski in "Die Dämonen" beschworen hat, wenn auch Maiers Kirillow eine andere Funktion erfüllt. Andrej Kirillow tritt in Maiers Roman niemals persönlich auf, aber sein Manifest ist so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, auch wenn es schließlich vernichtet wird.

Zumindest für eine gewisse Zeit aber stellt das Manifest ein zentrales Diskussionsthema unter den Studenten dar, die sowieso am liebsten zu reden scheinen - über die Gesellschaft und ihre Mechanismen, über Glück und Verzweiflung, über ökonomische und ökologische Funktionsweisen, Politik und Wirtschaft.

Zwei Freunde im Mittelpunkt

"Kirillow" ist ein wortreiches, fast geschwätziges Buch, voll von Dialogen und Monologen, philosophischen Sätzen und Zitaten. Im Mittelpunkt stehen die Freunde Julian Nagel und Frank Kober, und um sie herum gruppiert sich eine ganze Reihe anderer Personen: Julians Schwester Anja, Julians Freundin Eva oder Martin Jobst, der um seinen Platz in der Gruppe kämpft. Dazu kommen noch einige Russen, mit denen sich die Studenten angefreundet haben und die mit ihnen auf Partys oder in Kneipen nächtelang den Zustand der Welt diskutieren.

Vor allem gegen Ende des Romans geraten die Dinge in Bewegung. Die Studenten brechen ins Wendland auf, um dort gegen den Transport von Atommüll zu protestieren, und hier hat eine Einzelaktion von Julian Nagel fatale Folgen.

Fast eine Art Gegenbewegung

Mit voller Absicht hat Andreas Maier die Umweltschutzbewegung und das Thema atomare Endlagerung aufgegriffen - ein Thema, das in den Medien derzeit nur wenig Raum einnimmt. Seine Tendenz ist es immer, über Dinge zu schreiben, die derzeit niemanden zu interessieren scheinen. Damit ist das Buch schon fast eine Art Gegenbewegung zu dem, was im Augenblick literarisch stattfindet.

"Kirillow" ist ein durchaus ungewöhnliches Buch, ein Roman, der nicht umschmeichelt und nicht verführen will, und der sich mitunter in all seinem Wort- und Satzreichtum geradezu sperrig präsentiert: "Das Buch ist als solches vollkommen überflüssig, es müsste genau so gut auch nicht vorhanden sein", meint sogar der Autor selbst. Gerade in dieser unprätentiösen Haltung jedoch liegt auch der Reiz des Romans, ebenso wie in seiner sprachlichen Geschliffenheit.

Umwelt ist: unser tägliches Verhalten

Rund vier Jahre hat Andreas Maier an seinem Werk geschrieben und wie schon seine bisherigen Bücher hat auch dieses hinter all seinem Wortreichtum eine Botschaft, die gerade in der heutigen Zeit wichtiger denn je erscheint:

"Es geht bei mir immer um die Frage, wie 'man' richtig leben soll", erzählt Maier. "Der Roman entwickelt die These, dass wir unsere ökonomischen und ökologischen Prozesse überhaupt nicht im Griff haben, dass die Menschheit eine einzige gigantische Verschlimmerung der Zustände ist, dass da keine böse politische Macht, keine bösen Konzerne dahinter stecken, sondern nur unser tägliches Verhalten. Wir sind an all dem was passiert, schuld, jeder einzelne von uns." Lösungen kann er dafür nicht anbieten, aber "wir könnten uns das etwas präsenter halten".

Buch-Tipp
Andreas Maier, "Kirillow", Suhrkamp Verlag, ISBN 351841691