Ein von Menschen geschaffenes Konstrukt
Über die Zeit
"Du stiehlst mir die Zeit!", "Zeit ist Geld", "Entschuldigung, keine Zeit!" Im Alltag gebrauchen wir das Wort "Zeit" gemeinhin, als wäre sonnenklar, was damit gemeint ist. Das ist es aber keineswegs, wie Norbert Elias in seinem fundamentalen Werk nachweist.
8. April 2017, 21:58
Physiker sagen bisweilen, dass sie die Zeit messen. Sie bedienen sich mathematischer Formeln, in denen das Maß der Zeit als benanntes Quantum eine Rolle spielt. Aber man kann die Zeit weder sehen noch fühlen, weder hören noch schmecken, noch riechen. (...) Aber messen denn nicht die Uhren die Zeit? Man kann Uhren gewiss dazu benutzen, um etwas zu messen. Aber dieses etwas ist nicht eigentlich die unsichtbare Zeit, sondern etwas höchst Greifbares, etwa die Länge eines Arbeitstages oder einer Mondfinsternis oder das Tempo eines Läufers beim 100-Meter-Lauf.
Zeit ist keine Gegebenheit der Natur
Eineinhalb Jahrzehnte nach seinem Tod erstrahlt der Ruhm Norbert Elias' vielleicht noch heller als zu seinen Lebzeiten. Auf einer These hat der Meistersoziologe zeitlebens beharrt: Individuum und Gesellschaft sind unmittelbar aufeinander bezogen, das viel zitierte "autonome Individuum" sei nichts als eine Schimäre.
Damit sind wir mittendrin im Thema "Zeit". Auf eindrucksvolle Weise arbeitet Norbert Elias in seinem Buch heraus, dass das, was wir "Zeit" nennen, ein von Menschen geschaffenes Konstrukt ist. Während Newton davon ausging, dass die Zeit eine objektive Gegebenheit der Natur sei, behauptete Kant, dies sei sie keineswegs, sie sei vielmehr eine dem Menschen angeborene Erlebnisform. Norbert Elias verwirft beide Hypothesen. In seinen Augen hat sich so etwas wie menschliches Zeitbewusstsein erst im historischen Prozess herausgebildet.
In seiner Untersuchung über die Zeit geht Norbert Elias der Frage nach, wie sich das Zeitverständnis der Menschen im Wandel der Jahrtausende verändert hat, im "Fackellauf der Generationen", wie er es nennt. Klar ist für ihn dabei, dass das, was wir "Zeit" nennen, ein Werkzeug ist, das zwischen den Menschen, den Kräften der Natur und der sozialen Welt vermittelt.
Aufstieg der Uhren und Kalender
In den vergleichsweise einfach strukturierten Gesellschaften der vorgeschichtlichen Zeit waren Priester und Schamanen die Spezialisten des aktiven Zeitbestimmens. Sie allein wussten, wann die "rechte Zeit" gekommen war, um die Ernte einzuholen oder einen Beutezug zu beginnen.
Im Laufe der Menschheitsentwicklung gewannen so genannte "Zeitbestimmer" immer mehr an Bedeutung, arbeitet Norbert Elias heraus, also Uhren und Kalender. Elias' These: Die Entwicklung dieser Zeitbestimmer ist eng verknüpft mit der Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft. Je ausdifferenzierter eine Gesellschaft, desto ausdifferenzierter die Zeitbestimmer. Die zunehmende Urbanisierung und Kommerzialisierung der spätmittelalterlichen Welt erzwang regelrecht die Erfindung eines Instruments, mit dessen Hilfe die unübersehbare Zahl menschlicher Aktivitäten synchronisiert werden konnte. Die Stunde der mechanischen Uhren war gekommen.
Der große Vorteil dabei: Der Mensch konnte jetzt Dinge, die im unaufhörlichen Fluss der Geschehnisse ihren Platz hintereinander haben, nebeneinander stellen und direkt miteinander vergleichen. Die Erfindung und Verbreitung mechanischer Uhren war Norbert Elias zufolge ein epochaler Prozess, der wesentlich zur Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaften beigetragen hat.
Zeit ist Zivilisationszwang
In der modernen Gesellschaft ist die Zeit, die messbare Zeit, zur zweiten Natur des Menschen geworden - ein Prozess, der parallel zum Prozess der Zivilisation verlaufen ist. Wir alle leben heute unter dem unerbittlichen "Regiment der Uhren", wie Elias das nennt. Die Zeit ist Zivilisationszwang - und für einige auch Zivilisationsplage geworden. Nur: Sich außerhalb dieser Zeit zu stellen ist so gut wie unmöglich. Wer es versucht, wer sich etwa an Mondphasen orientiert und sich eigene Essens-, Arbeits- und Schlafzeiten gestaltet, ist durch soziale Exklusion bedroht.
Das Spannende an Norbert Elias' fundamentaler Arbeit über die Zeit ist dies: Man kann dem bedeutenden Zivilisationstheoretiker beim Denken zuschauen. Nicht alles ist leicht verständlich in diesem Buch, aber die Genauigkeit, die Ernsthaftigkeit, die Leidenschaftlichkeit, mit der Elias seinem Gegenstand zu Leibe rückt, schlägt einen mächtig in ihren Bann.
Buch-Tipp
Norbert Elias, "Über die Zeit", aus dem Englischen von Holger Fliessbach und Michael Schröter, Band 9 der "Gesammelten Schriften", Suhrkamp-Verlag, ISBN 3518283561