Judith oder Sandra?

Die Liebesblödigkeit

Man kann es melancholische Komik oder komische Melancholie nennen, immer trifft Genazino mit seinem lakonische Witz präzis in die sprichwörtliche Mitte des Lebens. So ist auch der neue Roman mit den tragikomischen Figuren der Trademark Genazino nur so angefüllt.

Es gibt jemanden, mit dem ich abrechnen muss, und das bin ich selbst. Mich plagt das Gefühl, dass ich rasch altere und meine Verhältnisse klären muss. Damit meine ich meine Liebesverhältnisse.

Der namentlich nicht näher benannte 55-jährige Ich-Erzähler in Wilhelm Genazinos neuem Roman hat in der Tat ein Problem. Ein Problem freilich, um das ihn so mancher Zeitgenosse beneiden würde:

Immer wieder stelle ich mir die grauenhafte Szene vor: Ich liege vielleicht in einem Krankenhaus und werde gleichzeitig von den beiden Frauen besucht, die ich liebe, und die nichts von einander wissen. Diese Konfrontation muss verhindert und ausgeschlossen werden: indem ich mich von einer der beiden Frauen trenne.

Die Musische und die Praktische

Ja, aber von welcher der beiden soll er sich trennen, das ist die Frage. Da ist Judith, die musisch Begabte und Interessierte mit Stil und mit ihrem Gefühl für alles Schöne, mit der sich so wunderbar über Gott und die Welt, über Kunst und Natur und all die anderen Freuden der Seele plaudern lässt. Nie würde Judith diese dilettantisch-kitschigen, bunten Ölgemälde produzieren, die Sandra hobbymäßig in ihrer Freizeit malt. Und die man als ihr Liebhaber auch noch zu loben, zu bewundern gezwungen ist.

Und da ist eben Sandra, die patent-praktische, die für jedes Problem des Lebens garantiert eine Lösung parat hat. Das betrifft nicht nur Schmutzwäsche-Probleme, Kochprobleme oder Probleme mit den häuslichen Installationen. Sondern auch, und sie sind nicht unwichtig, sexuelle Probleme, Lustschwund-Probleme, die im Leben eines 55-Jährigen nun einmal auftreten. Nicht massiv vorläufig und glücklicherweise, aber eben doch.

Ich kann die dauerhafte Liebe zu zwei Frauen nur empfehlen. Sie wirkt wie eine wunderbare Doppelverankerung. Man wird mit Liebe gemästet, und genau das brauche ich. Die Liebe zu zwei Frauen ist weder obszön noch gemein noch besonders triebhaft. Ich vergleiche sie oft mit der Elternliebe: Niemand hat je gefordert, dass wir nur die Mutter oder nur den Vater lieben dürfen. Im Gegenteil. Wir sollen Vater und Mutter lieben, und zwar gleichzeitig und stets heftig.

Kein Problem mit Unmoral

Wie man sieht: Es sind durchaus nicht moralische Skrupel, die unseren Freund, dieses Früchtchen, in seinem Doppelleben plagen. Nein, die Unmoral, die Unehrlichkeiten, die unvermeidliche Verschwiegenheit und manchmal sogar die kleinen Lügen, all das wäre nicht die Crux. Es sind nur die praktischen Probleme, die ein solches Doppelleben ab einem gewissen Alter schwierig machen. Aber wie sich entscheiden? Sandra oder Judith, Judith oder Sandra?

Es darf verraten werden: Zuletzt bleibt alles beim Alten. Auch lange Stunden des peinigenden Grübelns und Abwägens, selbst eine beträchtliche Zahl von Therapiesitzungen beim professionellen Panikberater Dr. Ostwald, bringen den wankenden und schwankenden Ich-Erzähler nicht weiter. Sandra oder Judith, eine Entscheidung ist nicht möglich.

"Die Kräfte des Menschen reichen nicht aus, sein Leben zu ordnen", resigniert sogar Dr. Ostwald vor dem ausweglosen Problem.

Wilhelm Genazino hat mit "Die Liebesblödigkeit" eine weiteres Buch voll von jenem lebensweisen Witz und Humor geschrieben, für den der Autor bekannt und berühmt ist.

Buch-Tipp
Wilhelm Genazino, "Die Liebesblödigkeit", Hanser Verlag, ISBN 3446205950