Zeichnen als Therapie

Das kreative Netzwerk

Manfred Schmidbauer ist Primarius der Neurologischen Abteilung am Krankenhaus Lainz, er hat aber auch Kunstgeschichte studiert. Mit seinen Überlegungen zur künstlerischen Betätigung bietet er spannende Erkenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns.

Manfred Schmidbauer hat bereits vor einem Jahr ein Buch mit dem Titel "Der gitterlose Käfig" veröffentlicht, in dem er beschreibt, wie das menschliche Gehirn die Realität erschafft. Das bildnerische Gestalten, dem das aktuelle Buch gewidmet ist, sei eine spezifisch menschliche Gehirnleistung, schreibt Schmidbauer. Wenn man Kinder beobachtet, dann ist an ihren Zeichnungen genau zu erkennen, in welchem Entwicklungsstadium sie sich befinden.

Die Freude am Tun

Ein Kind beginnt mit etwa zwei Jahren zu kritzeln, was auch buchstäblich als Fingerübung zu sehen ist, denn es geht hier nicht um Inhalte, sondern um die rhythmischen Bewegungen, die Freude am Tun. In der nächsten Phase entstehen Schemata für Menschen, Häuser oder Traktoren, bei jedem Kind variieren sie etwas, und es hält konsequent daran fest.

Ein charakteristisches Detail dieser Altergruppe ist etwa, dass alle Kinder die Sonne mit Strahlen malen, die so eigentlich nicht zu sehen sind. Ab dem siebenten oder achten Lebensjahr stellt das Kind Anforderungen an seine Zeichnung, sie soll dem natürlichen Vorbild möglichst gut entsprechen, das ist die Phase, in der der Radiergummi oft zum Einsatz kommt.

Zeichnungen spiegeln Krankheitsstatus

Die Beschreibung dieser Phasen des Aufbaus der bildnerischen Fähigkeiten ist deshalb von großer Bedeutung, weil bei bestimmten Erkrankungen gleichsam der Weg zurück beschritten wird. Ein gesunder Erwachsener wird, wenn er seit der Kindheit nicht mehr gezeichnet hat, an dem Stadium wieder anknüpfen, wo er damals aufgehört hat und unter Umständen darauf aufbauen.

Wenn aber die Hirnleistung abnimmt, wie bei Morbus Alzheimer oder bei schweren chronischen Durchblutungsstörungen des Gehirns bei Bluthochdruck oder Diabetes, geht der Patient von der Gestaltungsstufe, die er als Kind erreicht hat, Schritt für Schritt zurück und es gibt Patienten, die letztendlich wieder beim Kritzelstadium des Zweijährigen anlangen.

Die Patienten können durch ein geduldiges Zeichentraining sogar erkennen, was sie zuvor ausgelassen haben und sie verbessern die Leistungen der Hand wie des Gehirns. Patienten mit Morbus Parkinson, der unter anderem zu einer Verkleinerung der Bewegungen, beim Zeichnen wie auch beim Gehen, führt, wo die Erkrankten akribisch und sehr kleinteilig abbilden, erreichen sie durch Üben eine schwungvollere Strichführung und freiere Gestaltung ihrer Motive.

Nichts für Querleser

Manfred Schmidbauer beschreibt in seinem Buch ausführlich den künstlerischen Gestaltungsprozess an sich, die Leistung und die Funktionen des Gehirns. Ein Kapitel ist etwa "Das erfinderische Moment im bildlichen Gestalten und seine Beziehung zum Stirnhirn". Ein umfangreiches abschließendes Kapitel ist dem erkrankten Gehirn und seinen bildnerischen Möglichkeiten gewidmet - wobei die unterschiedlichen Störungen und die Therapiemöglichkeiten nicht nur durch zahlreiche Fallbeispiele, sondern auch durch Bilder von Kranken und Gesunden sehr anschaulich dargestellt werden.

Berührend sind darunter die Bilder von Depressiven, die die ganze Einsamkeit ihrer Schöpfer ausdrücken. Das Buch ist alles in allem nicht einfach geschrieben. Es erfordert echte Konzentration, aber vielleicht ist das wiederum eine Therapie des Neurologen für die Aufmerksamkeitsdefizite oberflächlicher Leser, die durch leichte Ratgeberkost verwöhnt sind.

Buch-Tipp
Manfred Schmidbauer, "Das kreative Netzwerk. Wie unser Gehirn in Bildern spricht", Springer Verlag, ISBN 3211208348