Fakten und Quellen (Teil 2)

Vergangenheitet die Vergangenheit!

Beim Stöbern nach Quellen und Literatur zur "Geschichte der Geschichte" beginnt man mit dem neuesten Buch des Philosophen Rudolf Burger, der "Kleinen Geschichte der Vergangenheit", und endet dort, wo vieles begann: Im Mittelalter.

Bereits das Hochmittelalter unterschied zwischen den "res gestae" und der "narratio rerum gestarum", zwischen Fakten und Geschichtserzählung. Dementsprechend ist die "historia" das gegenwärtige Wissen um die "res gestae", ja mehr noch, sie ist analog zur Bibelauslegung weniger eine Wissenschaftsdisziplin, als eine Auslegung der von Gott gelenkten Heilsgeschichte.

Wenn sich für heutige Historiker die Erkenntnis ergibt, dass Geschichte immer wieder umgeschrieben werden muss, so sind wir bei der Lektüre mittelalterlicher Geschichtsschreiber angehalten, noch weiter zu gehen, und gewärtig zu sein, dass ihre Werke in einer "Zeitsuppe" schwimmen; sie enthalten nicht nur Projektionen aus mythischer Vergangenheit, sondern auch Wünsche an die Zukunft!

"Relativitätstheorie der Geschichte"

In ihren Werken steht sehr oft die Erzählung des Historiographen noch vor dem tatsächlichen Ereignis, kann dieses bisweilen lediglich postulieren, ja ersetzen! Von der Weisheit der Welt sollte man nicht ausgehen, aber man sollte sie wenigstens wollen, stellte später der alte Leibnitz fest.

Er scheint es vor diesem Hintergrund nicht schlüssig, wenn der Wiener Zeitgeschichtler Gerhard Botz von einer "Relativitätstheorie der Geschichte" spricht, die es zu erstellen gelte?

Er arbeite nicht primär mit Fakten, sondern mit Quellen, sagt Botz. Demnach besteht die Arbeit des Historikers nicht im Herauskristallisieren von tatsächlich Geschehenem, sondern in der Interpretation von Quellen, wobei die Frage, was als Quelle herangezogen werden darf, und wann der "richtige Zeitpunkt" zur Diskussion und Publikation gekommen sei ,von der Gesellschaft und den Zyklen, denen sie unterworfen ist, bestimmt wird.

Die Errechenbarkeit des Seins

Durch diese Formel ist weit mehr als der Status quo der Geschichtsforschung bezeichnet; mit ihrer Hilfe rückt die Errechenbarkeit des Seins wieder in greifbare Nähe, kann der Schreiber selbst relativistisch angelegte Universen erschaffen.

Seit sich diese Einstellung unter den Historikern, bewusst oder unbewusst, weithin durchgesetzt hat, können nicht nur die einzelnen Schöpfer solcher postmodernen "tempora historica" auf dem Feld reiner Zukunfts-Geschichtsschreibung miteinander in Wettstreit treten, sondern es kann auch - systemimmanent völlig legitim- Widerstand gegen Vergangenes unter ahistorischen Vorzeichen geleistet werden.

Und wo bleibt die "Wahrheit"?

Dem in Österreich in dieser Deutlichkeit nur selten offen geäußerten Bekenntnis zum Geschichts-Relativismus mit gleichzeitiger Aufgabe des Prinzips eines Klebens an Fakten kann sich in Wirklichkeit kein weltanschauliches Lager mehr entziehen. Wenn auch hier und da noch in wissenschaftstheoretischen Betrachtungen eine "historische Wahrheitsfindung um ihrer selbst willen" gefordert wird, fußt diese natürlich nicht erst auf der Erkenntnis Poppers, dass "alle empirisch gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich nur provisorische Gültigkeit beanspruchen dürfen", sondern auf dem Kant’ schen Postulat nach Erkenntnisgewinn aus Kritik.

Freilich wird die Kritik an der damit nicht in Einklang zu bringenden, aber umso häufiger praktizierten "Übereinstimmungssuche" der Geschichtsschreibung, deren Ergebnis eine vor gefasste Theorie durch selektive Informationssuche bestätigen soll, zeitbedingt immer von jenen geübt, denen die Initiation in gerade herrschende gesellschaftliche Leitstrukturen nicht gelungen ist.

Ruf nach Objektivität

Der Ruf nach Objektivität ist immer die Forderung einer Minderheit. In der gegenwärtigen Diskussion ist besonders bemerkenswert, dass viele jener, die im Widerstand gegen die Ökonomisierung der Wissenschaft deren völlige Loslösung von Nützlichkeitsaspekten verlangen, dies überall, nur nicht für die Geschichtswissenschaft wollen, sondern in der Regel der "Übereinstimmungssuche" und der Verwendung von Geschichte für konkrete politische Ziele anhängen.

Obsiegen werden jene kreativen Geschichtschoreographen, die wie Scaliger eine Geschichte errechnen können, die:

  • vor der Entstehung der Welt beginnt,
  • die Zukunft meint, wenn sie die Vergangenheit nennt,
  • den irritierenden Schimmer diffuser Wahrheit verströmt,
  • und Lesebücher bequem füllt.
Man denkt’ s, und ordnet Rudolf Burgers Buch ins Regal jener Folianten ein, die man gerade im Gedenkjahr 2005 immer wieder zur Hand nehmen wird.