Vorsicht: Mathematik! (Teil 1)

Vergangenheitet die Vergangenheit!

Rudolf Burgers "Kleine Geschichte der Vergangenheit" fasst zusammen, was er an Thesen zur Relativität von Geschichtsbildern in den letzten Jahren publiziert hat. Anlass genug, sich auf die Suche nach der "Fassbarkeit des Vergangenen" zu begeben.

Jetzt ist er also wieder da, der "böse Bube" der heimischen Philosophie! In der "Kleinen Geschichte der Vergangenheit" legt Rudolf Burger nicht nur eine "pyrrhonische Skizze der historischen Vernunft" vor, sondern fasst kompakt all das zusammen, was einige aufregt: Die Geschichte sei nicht mit Vergangenheit gleichzusetzen, sondern sei Teil jenes Bildes, das sich die Gegenwart vom Vergangenen macht.

Training fürs Gehirn

Sie sei daher ein "ideologisches Reservoir für ihr politisches Selbstverständnis", ein "ideeller Fundus zur Legitimation und Polemik". Sie diene der Politik und bisweilen auch der "Erpressung". Dass Burger seinen berühmten Aufruf, einiges in der Geschichte doch besser zu "vergessen" hier einmal mehr erneuert, überdeckt in der Kurzdiskussion die Details seiner wissenschaftstheoretischen Thesen, was schade ist.

Die muss man nämlich schon alleine deshalb lesen, weil sie Training fürs Gehirn sind. Ich tat’s am Neujahrstag, von seltsamer Bettflucht aus den Federn getrieben, und las die 120 Seiten in einem durch. Dann fing die Arbeit aber erst richtig an; denn ich begann, woanders nachzuschlagen, und kam weit zurück ins frühe Mittealter. Vorsicht: Mathematik!

Ein verflixtes Ding, die Errechenbarkeit des Seins!

Gregor von Tours (538/39-594) errechnet in seiner zehnbändigen "Fränkischen Geschichte" den Beginn der Welt mit dem Jahr 5198 v. Chr. Fast exakt eintausend Jahre nach ihm kommt der calvinistische Begründer der wissenschaftlichen Chronologie, der Wissenschaft von der Zeit und den Kalendersystemen, Joseph Justus Scaliger (1540-1609) auf ein ganz anderes Schöpfungsjahr, leistet aber noch viel mehr: Der kühle Rechner Scaliger erhält mit der Multiplikation :28 mal 19 mal 15 die Zahl von 7980 Jahren und nennt sie sein "Tempus Historicum". Das besondere an Scaligers "Tempus Historicum" ist, dass darin auch Jahre enthalten sind, die noch in der Zukunft lagen und liegen!

Aus astronomischen Zyklen bestimmte er den 1.Jänner 4713 v. Chr. als ersten Tag seines "Tempus" Parallel dazu errechnete er aus den historischen Daten, die er aus der Bibel kannte, 3949 v. Chr. als Schöpfungsjahr. Dass er dabei den Beginn seines "Tempus Historicum" vor der Schöpfung ansetzte, focht den Pfiffikus nicht an.

Zum Herr der Zeit werden

Im "Tempus Historicum", sollten alle wichtigen Ereignisse der bekannten und der noch zu erwartenden Geschichte einen festen Platz finden . Darin ist jeder Tag ohne störende Wochen und Monate genau nummeriert; es sind "julianische Tage", die der gegen die gregorianische Kalenderreform 1582 kämpfende Scaliger doppelt beziehungsvoll nach seinem Vater, dem Altphilologen Julius Cäsar Scaliger benannte.

In gewisser Weise konnte, wer dieses System nutzte, Herr der Zeit werden, einfach indem er in eigentümlicher Art in der Zukunft des Universums "herumzurechnen" imstande war. Damit war nahezu eine neue Dimension eröffnet, jedenfalls ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Errechenbarkeit allen Seins getan worden, und je weiter die europäische Aufklärung voranschreitet, gewinnt ein Paradoxon Gestalt.

Nächsten Freitag (4. Februar) folgt der zweite Teil von Vergangenheitet die Vergangenheit!

Buch-Tipp
Rudolf Burger, "Kleine Geschichte der Vergangenheit. Eine pyrrhonische Skizze der historischen Vernunft", Styria Verlag, ISBN 322213149X

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