Timothy Garton Ash im Gespräch mit Michael Kerbler
Enttäuschte Liebe
"Nichts ist gefährlicher als enttäuschte Liebe" sagt der britische Historiker Timothy Garton Ash und meint das Verhältnis zwischen den
Vereinigten Staaten und Europa. Die USA sei schließlich von Europäern gemacht worden, die ein neues, ein besseres Europa im Sinn hatten.
8. April 2017, 21:58
Timothy Garton Ash und Michael Kerbler
Timothy Garton Ash: Die weiche Macht Amerikas, die unglaubliche Attraktivität des American Way of Life, die Träume von Hollywood - das alles verschwindet. Und wenn man die drei Dimensionen nimmt: weiche Macht (abgeschwächt), wirtschaftliche Macht (durch die Defizite in Frage gestellt), was bleibt? Das Militärische.
Michael Kerbler: Washington könnte auf dem Standpunkt stehen: Am stärksten ist der Mächtigste allein.
Ja, aber wenn es zu einer Wirtschaftkrise in den Vereinigten Staaten kommt, dann hat das auch für uns verheerende Folgen. Wir haben nur die Alternative, uns zu engagieren, freundlich zu reden und nicht - wie wir es zu oft machen - so aus der Distanz, höhnisch oder auch amüsiert, oder empört, herablassend, auch dieses nette Gefühl von leichter moralischer Überheblichkeit... Das ist alles sehr schön, aber hilft nicht weiter. Also wir haben keine Alternative als mit diesen starken, aber schwachen Amerikanern uns zu arrangieren.
Der europäische Geist ist es, der Amerika geschaffen hat, hat Paul Válery, der französische Schriftsteller nach dem Ersten Weltkrieg gemeint. Schwingt da mit ein Grund, warum die Europäer gekränkt sind über die Art und Weise wie Amerika jetzt ...?
Natürlich! Jakob Burckhardt sagte "Die Vereinigten Staaten von Amerika sind die erste Europäische Union". Es ist ja von Europäern gemacht worden, nicht wahr, die sozusagen ein neues, ein besseres Europa wollten. Und deshalb spielt in diesen Familienstreit - und letztendlich ist es ja ein Familienstreit - die enttäuschte Liebe der Europäer für Amerika eine sehr große Rolle. Nichts ist ja gefährlicher als die enttäuschte Liebe.
Wie viel Zeit bleibt für einen europäischen Einigungsprozess? Werden wir beide ihn noch erleben?
Die Vereinigten Staaten von Europa werden Sie und ich vermutlich nicht erleben. Ich denke, das ist nicht zu machen mit 40 so verschiedenen Staaten und Nationen, mit verschiedenen Sprachen und Kulturen. Also den alten Traum müssen wir wahrscheinlich begraben. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir ein starkes Europa aufbauen können, das etwas nie Dagewesenes in der Geschichte sein wird - deswegen ist es auch so schwer, es zu beschreiben. Es ist ein Unidentified Flying Object - und doch fliegt es, es bewegt sich doch. Und davon bin ich als englischer Europäer tatsächlich überzeugt.
Buch-Tipp
Timothy Garton Ash, "Freie Welt - Europa, Amerika und die Chance der Krise", aus dem Englischen von Susanne Hornfeck und Hans Günter Holl, Hanser-Verlag, ISBN: 3446205462
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