Rituale der Gesellschaft
Wie wir uns aufführen
Aufführungen sind allgegenwärtig: Politiker werden feierlich angelobt, bei den olympischen Spielen wird das Feuer symbolträchtig entflammt, Künstler schaffen Werke, die nur im Hier und Jetzt existieren. Die Gesellschaft ist auf dem performativen Trip.
8. April 2017, 21:58
Es ist durchaus verzeihlich, nicht zu wissen, was das Wort performativ bedeutet, schreibt John Austin, der Begründer der Sprechaktphilosophie, im Jahr 1961: "Es ist ein neues Wort und ein garstiges Wort, und vielleicht hat es auch keine sonderlich großartige Bedeutung. Eines spricht jedenfalls für das Wort, nämlich dass es nicht tief klingt."
Der Performanzbegriff ist vieldeutig und überall anwendbar. Das hat zur Breitenwirkung des "garstigen Wortes" beigetragen. Heute scheint der Begriff Hochkonjunktur zu haben.
Das Schaffen von Tatsachen
"Performativ" in der wissenschaftlichen Diskussion meint, dass man mit dem, was man sagt, zugleich etwas tut. Das "Jawort" der Eheleute vor dem Standesbeamten oder die Vollzugsformel: "Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau" sind performative Äußerungen. Sie beschreiben keine Tatsachen, sondern sie schaffen sie. Der Sprechakt des Standesbeamten bewirkt, dass sich das Brautpaar danach im Zustand der Ehe befindet.
Aufführungen sind keine Erfindung unserer Hochkultur. Schon bei den primitiven Kulturen wurden Glaubensvorstellungen in Ritualen aufgeführt. Es gibt aber Daten, mit denen die Anfänge einer performativen Kunst gesetzt werden.
Wie es begann
"Die einen sprechen vom Dadaismus und vom Surrealismus als den ersten performativen Künsten", sagt Marie-Luise Angerer von der Kunsthochschule für Medien in Köln. "Ich denke, im engeren Sinn beginnt die so genannte Performance-Kunst Ende der 50er Jahre mit Aktionen, Events, Happenings: Fluxus, Wiener Aktionismus, feministische body-art. Das sind die Spielarten, die man sofort mit performativer Kunst verbindet."
John Cage war einer der ersten, der mit seinem "untitled event" oder den "silent pieces" 1952 die Performance prägte: mit einer Aufführung, die lediglich aus der Stille und den Geräuschen, die das Publikum erzeugte, bestand.
Definition der Performance
Nach der orthodoxen Definition findet Performance im Hier und Jetzt statt. In der Gegenwart. Im Normalfall vor Zusehern und es ereignet sich etwas zwischen Akteuren und Publikum. Die Aufführung ist immer ein Ereignis. Das stellt die Kunsttheorie vor neue Herausforderungen. Und im Augenblick ist die Bereitschaft groß, sich auf derartige Events wieder einzulassen.
Die Bedeutung von Ritualen für die Gesellschaft
Aufführungen, Rituale sind die Performanzen, die eine Gesellschaft zusammenhalten, sagt der Ethnologe Thomas Hauschild von der Universität Tübingen, derzeit Fellow am IFK, dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Die Probleme der Zukunft, die auf unsere multikulturelle Massengesellschaft zukommen, können nur gelöst werden, wenn wir über Rituale nachdenken, wenn bindende Rituale geschaffen werden.
"Eines der wichtigsten Rituale in dieser Hinsicht ist sicherlich der ganze Komplex, den wir Militär nennen. Ich glaube, dass das Heer eine große Integrationskraft hat in multikulturellen Gesellschaften", sagt Hauschild. Er hält es deshalb für einen großen Fehler, dass in den USA und in Deutschland Berufsarmeen eingeführt werden.
Download-Tipp
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Buch-Tipps
Uwe Wirth (Hrsg), "Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft", Suhrkamp Verlag 2002, ISBN 3518291750
Erika Fischer-Lichte, " Ästhetik des Performativen", Suhrkamp Verlag 2004, ISBN 3518123734