Eine pyrrhonische Skizze der historischen Vernunft
Geschichte der Vergangenheit
Rudolf Burgers Ausgangspunkt für sein neues Buch scheint fast banal zu sein: Das Vergangene ist nicht mehr greifbar, nur in seinen Spuren erfahrbar. Geschichte wird also rekonstruiert, man könnte auch sagen, konstruiert.
8. April 2017, 21:58
"Geschichte" ist nur möglich, wenn der Großteil der Vergangenheit im Dunklen bleibt. Auch das Licht der Erkenntnis wirft Schatten.
Allerdings: Wir können auf diese so problematische, lückenhafte Geschichte nicht einfach verzichten. Was und wer wir gewesen sind, das bestimmt, wer wir heute sind. Indem wir unsere Vergangenheit definieren, bestimmen wir unsere Gegenwart und Zukunft. Aber auch umgekehrt.
Es war einmal in einem kleinen Land
Wohin das auf politischer Ebene führen kann, das zeigt Rudolf Burger mit einer Parabel:
Als die Kriege vorüber waren, die Bürgerkriege, Pogrome und Massaker, als lange schon Friede herrschte in jenem kleinen Land, dem Rest eines einst großen Reiches, da wurde seine Geschichte zum Schlachtfeld. (...) Ruhm und Ehre wurde den Helden der Archive zuteil, nicht mehr Generälen und Insurgenten, sondern den Athleten der Erinnerung fremder Leiden und Taten, die sie dem Vergessen entrissen.
In dem kleinen Land erkennt man unschwer Österreich mit seinem, wie es scheint, nie enden wollenden Kampf um die Vergangenheit:
Keine Seite konnte den Sieg erringen, allem archivarischen Stöbern zum Trotz blieben empirische Lücken in den Reihen der Beweise, in die der Gegner hermeneutisch vorstieß. Auch dass die Regierung Kommissare entsandte, die mit neuen Grabungen nach Dokumenten die Wahrheit amtlich festlegen sollten, konnte den Disput nicht beenden, im Gegenteil, es heizte ihn nur weiter an.
Die Anspielung gilt offensichtlich der offiziellen Historikerkommission zur Untersuchung der so genannten Arisierungen und Entschädigungsansprüche der in Österreich verfolgten Juden, die vor zwei Jahren ihren Schlussbericht vorlegte.
Was ist Wahrheit?
Eine objektiv feststellbare Wirklichkeit gebe es im Fall der Geschichte eben nicht, schreibt Bruger. Die Herstellung von Konsens sei auch in der Geschichtswissenschaft ein politischer Prozess. Deshalb werde unter Historikern viel erbitterter gestritten als unter Naturwissenschaftlern. Die Frage der Wahrheit werde zur Frage der Moral, das stelle aber den Status der Geschichte als Wissenschaft in Frage.
Rudolf Burgers Buch kann als Warnung gelesen werden: Geschichte, also das Geschehene, nicht mit den vielen möglichen Geschichten über das Geschehene zu verwechseln. Dabei ist die Vergangenheit eben nur als Erzählung greifbar zu machen, sie muss die Form einer Geschichte annehmen. Erst seit dem 18. Jahrhundert, schreibt Burger, spricht man überhaupt von der Geschichte, in der Einzahl.
Geschichte wird man nicht los
Ob Nationalsozialisten, ob Faschisten, ob Stalinisten: Sie alle rechtfertigten ihre Ideologie und ihre Massenmorde mit historischer Notwendigkeit. Bis hinauf zu den Nationalisten der Gegenwart. Was wäre den Menschen am Balkan alles erspart geblieben, fragt Rudolf Burger, wenn die Serben die Schlacht am Amselfeld vor 600 Jahren einfach vergessen hätten. Burger kommt damit auf sein Leib- und Leitthema der letzten Jahre zurück, mit dem er sich allerdings vehemente Kritik zugezogen hat: die heilende Kraft des Vergessens. Auch im vorliegenden Buch zweifelt er etwa am folgenden Leitsatz: "Wer die Geschichte vergisst, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen."
"Mir ist natürlich klar, dass wir die Geschichte nicht los werden", ist sich Burger bewusst. "Wir brauchen sie zur Herstellung unserer eigenen Identitäten, wir brauchen sie zur Herstellung unserer Gruppenidentitäten, bis hinauf zu staatlichen usw. Wir schreiben sie auch je nach den Bedürfnissen um. Es gibt heute ganze Programme auf der Ebene der EU, die die europäische Geschichte neu schreiben. Ich sympathisiere mit diesen Programmen, aber mit einem gewissen ironischen Blick darauf, und das wird dann sicherlich als die objektive Wahrheit unserer europäischen Identität dargestellt werden."
Buch-Tipps
Rudolf Burger, "Kleine Geschichte der Vergangenheit. Eine pyrrhonische Skizze der historischen Vernunft", Styria Verlag, ISBN: 322213149X
Johannes Fried, "Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik", Verlag C. H. Beck, ISBN: 3406522114
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Hör-Tipp
Rudolf Burger ist am Mittwoch, dem 19. Jänner, ab 14.05 Uhr zu Gast in "Von Tag zu Tag".