Simon Rattle und die zeitgenössische Musik

Auch Zeitgenössisches zum 50er des Pultstars

Er ist einer der wenigen prominenten Dirigenten der Musik-Szene, zu dessen Repertoire auch zeitgenössische Musik zählt: Sir Simon Rattle, der am Mittwoch 50 wird. So sind in dieser "Zeit-Ton"-Ausgabe unter seiner Leitung Werke von Lindberg und Turnage zu hören.

Sobald diese "Zeit-Ton"-Stunde vorüber ist, kann er beginnen, seinen 50. Geburtstag zu feiern. Und da Sir Simon Rattle unter den wahrhaft begehrten und gerühmten Dirigenten der heutigen Musikwelt einer der ganz wenigen ist, in dessen Repertoire sich auch Musik seiner Zeitgenossen befindet, ergänzen wir den Rattle-Schwerpunkt mit einem diesbezüglichen "Zeit-Ton":

Die Berliner Philharmoniker spielen unter seiner Leitung Musik von Magnus Lindberg und Mark-Anthony Turnage. So wohltuend es ist, dass Simon Rattle es für selbstverständlich hält, die Musik seiner Zeitgenossen genauso zu dirigieren, wie diejenige von Komponisten vergangener Jahrhunderte, so wenig soll verschwiegen werden, dass auch dieses Licht Schatten wirft und diverser Kritik ausgeliefert ist. Und zwar von jenen, die am liebsten ganz in der Vergangenheit schwelgen würden ebenso wie von solchen, denen Rattles Vorlieben unter den Zeitgenossen gar zu gefällig ist. Und dafür bot die Uraufführung von Mark-Anthony Turnage, aufgenommen im Oktober 2004 in Berlin, guten Anlass.

"Rückstandsfreie Wohlfühlmoderne"

Der Dirigent Simon Rattle, sein Auftreten und sein Nimbus, sind ja nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein Medienphänomen. Und dem soll in dieser "Zeit-Ton"-Ausgabe zumindest insofern Rechnung getragen werden, als auch veröffentlichte Stimmen zu Rattle zitiert werden.

"Schön schwach" ist eine von Manuel Brug verfasste Rezension dieser Uraufführung übertitelt, und er führt aus: "Für Simon Rattle ist Eklektizismus kein Schimpfwort. Insofern kann ihn die Kritik strenger Anhänger der zeitgenössischen Musik nicht wirklich treffen, er pflege auf diesem Feld allzu einseitig Gefälligeres, Publikumsfreundlicheres von Komponisten wie Heiner Goebbels, Thomas Adés oder Mark-Anthony Turnage. Schade ist es freilich, wenn er nur auf ein ebenso schönes wie schwächelndes Opus trifft. Das ist bei Marc-Anthony Turnages 'A Relic of Memory' leider der Fall. ... Ein wenig Benjamin Britten hier, ein bisschen Filmmusik da, alles mit einem melancholischen Trauerrand und gläsernen Vokallinien ... Das ist rückstandsfreie Wohlfühlmoderne, die am Ende doch enttäuscht."

Und auch Allzuschwieriges

Selbstverständlich ist Simon Rattle aber auch ständig in Gefahr, nicht nur für Allzuseichtes, sondern auch für Allzuschwieriges in seiner Programmgestaltung getadelt zu werden.

Als er bei den "Salzburger Festspielen" 2003 auftrat und ein - übrigens auch in Ö1 übertragenes - Konzert dirigierte, fragte sich ein Rezensent trotz bester Beurteilung der Qualität des Konzerts, "ob man des Guten nicht doch zu viel tat, drei so hochkomplexe Stücke miteinander aufs Podium zu hieven wie Béla Bartóks 'Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta', György Ligetis Konzert für Violine und Orchester von 1992 und Igor Strawinskys 'Le Sacre du Printemps'".

Aufnahmen von Ades, Adams, Henze und Turnage

Vorletztes Medienzitat über Simon Rattle, das alles auf den Punkt bringen will: "Simon Rattle gilt als Heilbringer einer ganzen Branche. Er lockt junges Publikum an, er swingt zu Broadway-Rhytmen, hüpft bei Haydn, stampft mit Strawinsky." Und vielleicht gibt das ja auch eine Richtung ins Zeitgenössische vor.

Auf Platte erschienen sind unter Rattles Dirigat Stücke von Thomas Ades, John Adams, Hans Werner Henze sowie auch Mark-Athony Turnage. Letzterer ist künstlerischer Berater der "Birmingham Contemporary Music Group". Im Dezember 2002 leitete er die erfolgreiche Uraufführung von "Sophie's Choice", einer neuen Oper des gemäßigten britischen Komponisten Nicholas Maw, dessen Anwalt Simon Rattle auch sonst öfter gespielt hatte.

Modernes auch als Philharmoniker-Chef

Und nachdem Rattle seine Position bei den Berliner Philharmonikern angenommen hatte, setzte er gleich Olivier Messiaen und György Ligeti auf das Programm, sowie neue Werke von Tan Dun, Heiner Goebbels, und eben Magnus Lindberg.

Christian Irrgang veröffentlichte u. a. folgende Tagebucheintragung in der "Berliner Morgenpost" von der Japan-Tournee der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle im Vorjahr: "Dienstag: erstes Konzert. Einige Musiker murren über das neue Stück von Magnus Lindberg ('Aura'), das heute gespielt werden soll. 'Ich schäme mich, damit vor das japanische Publikum zu treten', sagt ein Philharmoniker offen. Der finnische Komponist begleitet die Tournee und betont, sein Stück sei vor zehn Jahren in Tokio uraufgeführt worden und kehre jetzt nach Japan zurück. ... Zur Generalprobe für eine Einführungsveranstaltung erscheint Lindberg viel zu spät. Simon Rattle scherzt, Lindberg habe am Vorabend wohl zu sehr einem finnischen Nationalsport gehuldigt, der mit Alkohol zu tun hat. 'Was heißt eigentlich Brummschädel auf japanisch?', will er wissen. Die Lindberg-Aufführung wird trotzdem ein Triumph ... "

Opulente "Aura"

Magnus Lindberg, 1958 geboren, ist seit den 80er Jahren mit Stücken, die nach "Kraft" und "Aura" klingen und ja auch so heißen, zu einem international erfolgreichen Komponisten geworden. Das fast 40-minütige "Aura" für großes Orchester ist opulent und so klangfarbenprächtig, dass es in einer durchaus wohlwollenden Kritik hieß, "dass ein Paradeschinken wie Richard Strauss' 'Josephs Legende' dagegen vergleichsweise protestantisch-schmallippig anmutet."

Lindberg selbst meint zu diesem Stück, man könnte es eigentlich fast eine Symphonie nennen, es hat ja immerhin auch vier, wenn auch ineinander übergehende Sätze. Trotzdem sei es aber keine Symphonie, sondern mindestens sosehr ein "Konzert für Orchester", mit all diesen konzertanten Wechselspielen. Mit dieser Bemerkung verweist Lindberg auch darauf, dass er das Stück Witold Lutoslawski und dessen "Konzert für Orchester" gewidmet hat.