Autobiografisches
Die weißen Inseln der Zeit
"Ich wurde am 5. November 1951 in Köln geboren." Mit diesem Satz begrüßen die "weissen Inseln der Zeit" den Leser. Ein leichtes Aufschrecken huscht durch die Glieder: Will hier jemand wirklich nach der Reihe von sich erzählen? Ganz und gar nicht!
8. April 2017, 21:58
Mit den "Weissen Inseln der Zeit" legt Ortheil eine Sammlung von Texten vor, die gemeinsam eine beeindruckend-berührende, fragmentarische Autorenbiografie ergeben. Der Leser wird in kunstvoll gefertigter Einfachheit an Orte, in Bücher, Bilder und Klänge entführt, die eines gemeinsam haben: den Bezugspunkt des schreibenden Ich, das hier mit Distanz verschiedene Phasen des eigenen Werdens dokumentiert.
Die "weissen Inseln der Zeit" bedeuten ihm Freiheit spendende Zeitmomente, erzählt Hans-Josef Ortheil, Augenblicke, die herausfallen aus einem geordneten, gut strukturierten Alltag.
Schreiben statt sprechen
Einen so genannten normalen Alltag hatte Hanns-Josef Ortheil schon als Kind nicht: Bis zum 6. Lebensjahr gehörte er zu den Nicht-Sprechern. Schreiben hatte er zu diesem Zeitpunkt längst gelernt. Es war lebenswichtig, lebenserhaltend. Ortheils Mutter nämlich litt an Aphasie, sprach nicht, las viel. Es waren beschriebene Zettel, die die Familie in ihrer Struktur erhielten.
Dieses existenzielle Verhältnis zur Schrift habe er nie verloren, sagt Hanns-Josef Ortheil, der heute in Hildesheim eine Professur für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus inne hat.
Streifzüge
In "Die weissen Inseln der Zeit" gewährt Ortheil Einblicke in seine Leidenschaften und Vorlieben, in die eigene Gebrochenheit. Lesend durchstreift man mit ihm das Kindheits-Köln der 50er Jahre, begleitet ihn bei den ersten Schritten einer später abgebrochenen Pianistenkarriere und erfährt - mit liebevoll schonungslosem Augenzwinkern im Tonfall - von den Anfängen eines Schriftstellerdaseins, das sich zunächst in dem Zur-Schau-Tragen großer Ernsthaftigkeit und Humorlosigkeit zu zeigen gab. Erzählt wird von den Jahren in Rom, von den ersten Konzerten, von Streifzügen durch europäische Städte und Landschaften.
Das Pathospotenzial, das dieses Projekt in sich birgt, umgeht Ortheil auf leichtfüßige Weise: Hier schreibt jemand - klug, überlegt und doch nie überlegen - aus unterschiedlichsten Perspektiven über sich, nicht um sich zur Schau zu stellen, sondern vielmehr, um sich schreibend auf die Schliche zu kommen.
Feines Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Reflexion
Die in dem vorliegenden Band versammelten Texte mögen auf den ersten Blick allzu einfach erscheinen. Sieht man jedoch näher hin, kommt in ihnen ein feines Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Reflexion zum Ausdruck, das zeigt, dass in der Leichtigkeit dieser Texte nicht nur hartnäckige Ausdauer, sondern viel sensibles Wahrnehmungsvermögen steckt. In jedem Fall ein seltener Beweis dafür, dass das Schreiben, das Geschriebene sehr viel mit einem selbst zu tun haben kann, ohne an literarischer Qualität zu verlieren.
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Buch-Tipp
Hanns-Josef Ortheil, "Die weissen Inseln der Zeit. Lektüren. Orte. Bilder", Luchterhand Literaturverlag, ISBN: 3630871755