Die Musik-Visionen des Giacinto Scelsi

Kosmische Energie in mystischen Klangfarben

In der Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus sei er auf die Welt gekommen, behauptete der geheimnisvolle Klangmystiker Giacinto Scelsi, der zu Lebzeiten jegliche Fotografien seiner Person verweigerte. Am 8. Jänner wäre er 100 Jahre alt geworden.

Ausschnitt aus "Phat": Ein Knall, und der Himmel öffnete sich

Vor über 4000 Jahren sei er in Indien geboren, behauptete Giacinto Scelsi standhaft. Er duldete keine Veröffentlichung von Fotografien seines Porträts in Programmheften, Booklets und Artikeln. Interviews verweigerte er prinzipiell.

Giacinto Scelsi beschäftigte zahlreiche Musiker, die seine Klang-Visionen in Partituren umsetzten. Und er wurde scheinbar erst am Beginn der 80er Jahre "entdeckt“. Seinen späten Ruhm konnte er allerdings nicht lange genießen; er verstarb im Sommer 1988. Am 8. Jänner wäre er 100. Jahre alt geworden.

Exzentriker und Außenseiter

Seit der Mitte des 20.Jahrhunderts kannte man international den Namen Giacinto Scelsi in Kreisen der Interessierten an zeitgenössischer Musik. Doch man sah in ihm einen Exzentriker und Außenseiter. Seine Werke waren eigenartig, man konnte sie nicht nach den Maßstäben des europäischen Musikschaffens analysieren.

Von seinen ersten Lehrern Giacinto Sallustio in Rom und Egon Koehler in Genf wurde er mit der Musik und den visionären Ideen von Scriabin vertraut gemacht; Walter Klein, ein Schüler Schönbergs, unterrichtete ihn in der Zwölf-Ton-Komposition. Die daraus resultierenden Kompositionen (etwa "Quatro poemi“, in denen das op. 1 von Alban Berg zitiert wird) haben Scelsi in den 30er Jahren in Italien frühen Ruhm beschert.

Gegen den "Mainstream"

1955 wurde sein Klavier-Zyklus "Action Music No. 1“ veröffentlicht, der erstmals international Aufsehen erregte. Doch diese Musik entsprach einfach nicht dem "Mainstream“ der "Neuen Musik“, die vom "Serialismus“ geprägt war. Keine der analytischen Methoden war anwendbar, um seine Stücke darzustellen und einzuordnen. Doch Scelsi hatte inzwischen in seinem Schaffen jeden Bezug zu musikgeschichtlichen Entwicklungen und Traditionen abgebrochen, denen er in seinen früheren Kompositionen gefolgt ist.

Die Faszination einer einzigen Note

1959 schrieb Scelsi ein Stück für Kammerorchester "su una nota sola“ - über einen einzigen Ton - ein Stück ohne Melodie, ohne harmonische Stütze. Es ist ein Ausloten der Klangfarben und der Obertöne, um eine "kosmische Energie“ in der Musik erfahrbar zu machen.

"Der Klang ist rund wie eine Sphäre“, behauptete Scelsi, doch diese Dimension sei kaum zu ergründen: Die Obertöne gäben uns eine Ahnung von der kosmischen Energie der Klänge, von deren Systematisierung wir weit entfernt wären.

Scelsi selbst fühlte sich in der Lage, intuitiv diese weitere Dimension des Klangs in seine Werke einzuführen. Dabei sah er sich nicht als Komponist sondern als Medium. Am Klavier, auf der Gitarre und mit Perkussionsinstrumenten improvisierte er, um dieser weiteren Dimension nahe zu kommen. Dann ließ er die Resultate von Schülern aufzeichnen und nach seinen Angaben instrumentieren.

Mystische Klänge und Mythen

Für ein Jahrzehnt beschäftigte Giacinto Scelsi die Idee der Stücke über einen einzelnen Ton. Daneben entwickelte sich ab 1972 eine Linie melodisch dominierter Werke, die besonders durch die "Canti del Capricorno“ herausgehoben wird, einen Zyklus von Gesängen, die Scelsi mit der Sängerin Michiko Hirayama erarbeitet hat.

In der Folge entstanden Werke mit einem literarischen Bezug zur Mystik verschiedener Kulturen: "Uaxuctum“, eine Kantate über die Selbstzerstörung einer Stadt der Maya in Mexico, "Elohim“ für Streichorchester nach dem Anrufungsnamen Gottes aus dem Alten Testament und "Latin Prayers“ für Kontratenor solo.

Nicht Komponist, bloß Vermittler

Giacinto Scelsi hat mit seinen Werken deutlich gemacht, dass es in der Musik Dimensionen einer Geistigkeit gibt, die durch die Versenkung in elementaren Klang und Augenblickserfahrung erlebbar wird - unbeschränkt von traditionellen Formen und Klangvorstellungen.

So wird es klar, dass sich Scelsi nur als Vermittler kosmischer Energien verstand, nicht als Komponist, und dass er sich der Öffentlichkeit entzog. Anstelle von Porträt-Fotografien gibt es in Veröffentlichungen seiner Musik nur eine simple Grafik: eine horizontale Linie über der ein Kreis zu schweben scheint.

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Giacinto Scelsi - Biografie