Eugen Drewermann und Jacques Gaillot
Kirchliche Visionen
Wie wird die katholische Kirche des 21. Jahrhunderts aussehen? Wird es eine römische Kirche sein, in der die Bürokratie dominiert und das Heil verwaltet, oder eine allumfassende Kirche, die sich als eine Gemeinschaft unterwegs zum Heil begreift?
8. April 2017, 21:58
Eugen Drewermann über Solidarität
Niemand kann vorhersagen, wie sich die Kirche - eine Institution mit fast zweitausendjähriger Kontinuität entwickeln wird. Eugen Drewermann, Priester und Psychotherapeut, und Jacques Gaillot, Bischof einer Internet-Diözese mit rund 90.000 Usern, gehören zu den Visionären einer offenen katholischen Kirche. Trotz der Schwierigkeiten mit Rom haben sie ihr Engagement für das Evangelium nicht aufgegeben. Und wo immer sie sprechen, kommen die Menschen in Scharen, um sie zu hören und zu sehen.
Christsein im dritten Jahrtausend
So lautete eine Veranstaltung vom "Publik Forum", einer Zeitschrift für kritische Christen, in der Beethovenhalle in Bonn, bei der sich namhafte Theologen und Geistliche die Frage stellten, wie die Kirche im dritten Jahrtausend christlicher Zeitrechnung aussehen wird. Einer der Vortragenden war der vom Priesteramt suspendierte Psychoanalytiker Eugen Drewermann, der darin keine historische oder politische, sondern eine ganz persönliche Frage sieht, die Mut braucht:
"Die Frage kann nicht sein, dass die Kirche macht, was bestimmte Kirchenvertreter mit uns machen. Die Frage ist, wie wir uns selbst verstehen. Eine Kirche, die ausschließt, kann nicht die Kirche Jesu Christi sein. Das Maß für die Wahrheit unseres Lebens kann nicht in tradierten Redensarten bestehen. Jesus wollte, dass man ein für allemal aufhört, Gott zum Alibi herzunehmen, um Stacheldraht zu ziehen zwischen Gläubigen oder Ungläubigen, Anständigen oder Unanständigen, Guten oder Bösen, Gerechten oder Ungerechten. Von Gott sollte nie anders die Rede sein, als dass er einlädt und umschließt - in einer Gemeinsamkeit, die so weit ist, wie der Himmel, an dem die Wolken ziehen, ohne Zäune, und an dem die Schwalben fliegen, ohne Grenzbestimmungen. Das menschliche Herz ist mindestens so weit wie die Wolken und die Schwalben: Es sucht das Unendliche. Und anders wird es Gott nie finden".
Freie Jünger
Trotz zahlreicher Proteste fand die Bonner Veranstaltung ohne Bischof Jacques Gaillot statt. Sein Auftritt wurde vom Kölner Kardinal Meissner verboten. Gaillot, der von Rom als Oberhaupt einer im nordafrikanischen Wüstensand verschwundenen antiken Diözese namens Parthenia eingesetzt wurde, ist im Internet mit rund 90.000 Besuchern höchst präsent und erfolgreich. Für die Veranstaltung hatte er Texte aus seinem neuen Buch "Ein Katechismus, der Freiheit atmet" vorbereitet. Unter der Überschrift: "Freie Jünger" ist hier zu lesen:
"Christ sein bedeutet, zu erkennen, dass man ein Jünger Jesu ist. Schüler zu sein ist heute allerdings problematisch. Bedeutet das nicht Unterwerfung? Zieht das nicht einen Freiheitsverlust nach sich? Bestimmt da nicht ein anderer über mich? Diese Fragen sind berechtigt, weil es um etwas Kostbares geht - um unsere Freiheit. Das Evangelium ist eine Botschaft, die von Freiheit geprägt ist, die das Verantwortungsbewusstsein weckt und die Menschen nicht wie Unmündige behandelt. Jesus kommt, um uns von der Angst zu befreien, von der Angst, wir selber zu sein, von der Angst zu verlieren, zu scheitern, die Wahrheit zu sagen, von der Angst, sich zu engagieren und Risiken einzugehen, von der Angst, 'nein' zu sagen".
Ängste verhindern die Freiheit
All die Ängste, denen man ausgesetzt sei, verhindern aber die Freiheit, schreibt Jacques Gaillot:
"Solange man Angst hat, ist man nicht frei. Aber wenn man frei ist, dann macht das Angst - paradox! Jesus, der freie Mensch hat die Revolte des Gewissens gepredigt. Er machte Angst, weil er die etablierte Ordnung störte. Die Jünger Jesu wissen, dass die Freiheit etwas kostet und dass sie ein Kampf ist. Wie könnten sie von einem Evangelium der Freiheit Zeugnis ablegen, wenn sie selbst nicht frei wären?"
Mentaler Stacheldraht
Im Normalfall werden die menschlichen Verhältnisse von einer Art mentalen und oft auch realen Stacheldrahts bestimmt, der zwischen "uns" und "die anderen", zwischen "Guten" und "Bösen" gespannt wird, meint Eugen Drewermann. Misstrauen und Abwertung sind schnell zur Hand. Doch das macht das Leben auf der Erde nicht leichter. Und es widerspricht der Botschaft Jesu:
"Die Botschaft Jesu ist, in allen Menschen das Ebenbild Gottes zu sehen - unabhängig von Alter, Herkunft, Geschlecht, Stand u. s. w., so wie das die Erklärung der Menschenrechte fordert. Dazu ist es Not, die Menschen anders und neu wahrzunehmen".
Heilende Religion
Das Christentum ist eine Erlösungsreligion eine - so Drewermann - durch und durch therapeutische, auf Heil und Heilung ausgerichtete Religion. Ihr geht es um Integration - um seelische, aber auch soziale Integration. "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst" - kaum ein Wort des Neuen Testaments, das öfter zitiert werde. Es scheint so bekannt und vertraut - aber über die Konsequenzen und Umstände dieser Forderung denken wir selten nach, meint der Psychotherapeut:
"Solidarität zwischen den Menschen im Angesicht der Bedrohung von Krankheit, Alter und Tod ist vernünftig. Doch das Evangelium Jesu fordert noch mehr. Eine derartige Notgemeinschaft gegen die Folgen von menschlicher Endlichkeit ist gut - aber noch sind die Möglichkeiten von Solidarität und Menschenliebe nicht ausgeschöpft."
Hat das Christentum im dritten Jahrtausend eine Zukunft?
"Ja", meinen Eugen Drewermann und Jacques Gaillot. Sie verstehen sich selbst als Pfadfinder auf dem alten, aber immer wieder neu zu findenden Pfad des Evangeliums. Und auch in einem anderen Punkt sind sich der Bischof der Internet-Diözese Parthenia und der Priester und Psychotherapeut einig: Wer das Evangelium Christi verstanden hat, wird niemanden ausschließen. Integration ist das zeitgenössische Wort dafür: Integration unserer eigenen schwachen Seiten, Integration der Sozial-Schwachen und Ausgestoßenen, Integration der Fremden.
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