Ein Professor bricht aus
Nachtzug nach Lissabon
Es gibt Bücher, die sind weise, und es gibt Bücher, die sind spannend. Und nur selten ist das eine mit dem anderen verträglich. Eine Ausnahme ist das neue Buch von Pascal Mercier. Es beschäftigt sich mit Grundfragen des Lebens und der menschlichen Existenz.
8. April 2017, 21:58
Hauptfigur in dem scheinbar unauffälligen Plot Pascal Merciers ist ein Schweizer Gymnasialprofessor, ein Altphilologe, der das alte Latein, das alte Griechisch und auch das alte Hebräisch aus dem FF beherrscht, und im Übrigen im Ruf steht, persönlich fast so alt zu sein wie jene Sprachen, die er unterrichtet.
"Der Papyrus" wird Raimund Gregorius von Kollegen und Schülern treffend geheißen, ein Biedermann ohnegleichen, der noch nie im Leben unpünktlich war, der von keinerlei Auffälligkeiten auch nur angehaucht ist, von Eskapaden gar nicht zu reden. Stark kurzsichtig ist er auch noch, weshalb er Reisen grundsätzlich ablehnt.
Auf zu neuen Ufern
Dieser Titan der Verlässlichkeit verlässt eines Tages unvermittelt und kommentarlos das Klassenzimmer, in dem er gerade unterrichtet, verlässt seine Schule, verlässt sein bisheriges Leben und besteigt den nächsten "Nachtzug nach Lissabon".
Gregorius begriff, dass er dabei war, eine große Befreiung zu erleben; die Befreiung von einer Schwerfälligkeit, wie sie schon aus seinem Namen sprach; die Befreiung von einem Bildnis seiner selbst, in dem er sich kurzsichtig über verstaubte Bücher beugte; ein Bildnis, das er keineswegs planvoll entworfen hatte, sondern das langsam und unmerklich gewachsen war. Es schien ihm, als trete er daraus heraus, wie aus einem Ölgemälde im vergessenen Seitenflügel eines Museums.
Erfahrungen, die alles verändern
Es ist, genau betrachtet, lediglich ein langer innerer Monolog, den Raimund Gregorius mit sich selbst führt. Reale Ereignisse ragen nur sporadisch und lapidar in den Fluss dieses Selbstgesprächs, dieses Nachgrübelns.
Sehr geehrter Herr Direktor, ich bin wohlauf. Mir ist nichts zugestoßen. Ich habe eine Erfahrung gemacht, die vieles veränderte. Sie ist zu persönlich, und auch noch zu unübersichtlich, als dass ich sie jetzt zu Papier bringen könnte. Ich begebe mich auf eine weite Reise, und es ist offen, wann ich zurückkehre. Und in welchem Sinn.
Innere Sprachreise
Aber jene Erfahrungen sind bloß winzige Ereignisse, die eher schon Nicht-Ereignisse zu nennen wären: die Begegnung und ein kurzer Dialog mit einer unbekannten Frau in einer roten Lederjacke auf einer Brücke etwa, ein Besuch in einer Buchhandlung, wo Gregorius ein unscheinbarer Band eher zufällig in die Hände fällt. Und doch gelingt es Mercier, den sich daran anschließenden inneren Monolog seiner Hauptfigur in einer Weise zu führen, die den Leser nicht loslässt.
Auf der inneren Sprachreise, auf die Mercier seinen Protagonisten über 500 Seiten lang schickt, ist dieser auf der Suche. Auf der Suche wonach? Nach dem portugiesischen Autor, dessen Buch er zufällig in jenem Antiquariat erstand? Auf der Suche nach sich selbst? Oder auf der nach jenem anderen Leben, das er nicht geführt hat und auch nicht führen wird?
Wie ist das mit den "Selbsten"?
Es ist natürlich kein Zufall, dass der Latein- und Griechisch-Professor Gregorius nun ausgerechnet nach Lissabon fährt: Es ist die Stadt Pesoas. Raimund Gregorius im "Nachtzug nach Lissabon" unterwirft sich einer Art Menschenversuch: Wie ist das wirklich mit jenen "Selbsten", die Pesoa beschwört?
Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben, was in uns ist - was geschieht mit dem Rest?, fragt sich Raimund Gregorius.
Gibt es ein Geheimnis unter der Oberfläche menschlichen Tuns? Oder sind die Menschen ganz und gar so, wie ihre Handlungen, die offen zu Tage liegen, es anzeigen?, fragt sich wiederum Amadeu Inaciu Prado, der Autor jenes schmalen Bandes, das Gregorius im Antiquariat aufstöberte.
Und ein kleiner Krimi
Schließlich gerät der reisende Sprachlehrer in einen echten kleinen Krimi, einen Polit-Krimi: Jener unbekannte Autor und Arzt, Amadeu Prado, war ein aktiver Gegner der portugiesischen Salazar-Diktatur gewesen. Ein Widerstandskämpfer. Er ist tot. Wie und woran starb er?
Aber tatsächlich bleibt es ein innerer Krimi, den Raimund Gregorius durchlebt. Wie er ausgeht, sei hier nicht verraten. Man kann nicht einmal sagen, für Spannung sei gesorgt, denn diese Geschichte scheint alle Voraussetzungen zu erfüllen, eben nicht spannend zu sein. Dass sie es doch ist, darin liegt die Meisterschaft des Sprachphilosophen Peter Bieri alias Pascal Mercier.
Buch-Tipp
Pascal Mercier, "Nachtzug nach Lissabon", Hanser Verlag, ISBN 3446205551