Ein Kaffeehaus
Melange, Teil 1
Wien, die Weltstadt! Kultur an allen Ecken, vom echten Kitsch bis zur falschen Avantgarde - die Donaumetropole hat alles, was das Städterherz begehrt. Was in Reiseführern nicht erwähnt wird, dem wird nun für einige Wochen die Mittwoch-Kolumne gewidmet sein.
8. April 2017, 21:58
Aus den verstecken Lautsprechern kommt reichlich polierte Plastikmusik, immerhin nicht zu laut. Alle anwesenden Frauen haben tiefe, rauchige Stimmen oder hohe, rauchige Stimmen, jene von städtischer, diese von ländlicher Herkunft. Die Tische haben Kunststoffplatten mit Pfefferstreumuster, praktisch immer sauber. Alle Männer - es sind drei gegenüber zwölf Frauen - tragen Baseballkappe und haben rehbraune Tränensäcke, wie die Frauen übrigens auch. Ein Norwegerpulli ist zu sehen.
Die Sitzbezüge - es sind Bänke - sind türkis-kobaltblau gescheckt und weisen sonnenblumengelbe Tupfer auf, welche Schmetterlinge, Hosenbeine oder Lastwagen stilisieren, man kann sich nicht entscheiden. Farbe der Holzfurnier: Hansaplast. In der Raummitte eine Vitrine, darin ein halbes Teeservice mit gar nicht zaghaft angedeuteter Bauernmalerei sowie zwei Weinflaschen, gebettet je in ein Nest aus Stroh, dazwischen Kunststoffweintrauben. In die Raumdecke fachmännisch integriert: Energiesparlampen.
An einer Fensterfront - einer der beiden Schaufensterfronten - wurden verschiedene Gegenstände versammelt, in Sitzhöhe. Von links: vier verschiedene Zimmerpflanzen (in einem der Töpfe steckt zusätzlich ein Zweig Plastikgrünpflanze), dann gestapelte Kuben in buntem Geschenkpapier, weihnachtlich, dann Weinflaschen inmitten künstlichen Weinlaubs, ein Korb Plastikobst, wieder Geschenkpapierkuben, ganz rechts abermals Zimmerpflanzen. Ein Arrangement für Genießer.
Die Luft ist stickig und leicht trüb vom Zigarettenrauch. Über der Theke hängt ein Ventilator, ohne Aktivität. Desgleichen zwei Stammgäste, zwei der drei Männer. An der Rückseite der Theke prunkt eine Vitrine mit verspiegelter Rückwand, eine weitere Vitrine daneben mit den gängigen Spirituosen prunkt etwas weniger. An der verbleibenden Wand: beleuchtete Blumenbilder, abgewechselt zu halbmondförmigen Wandlampen mit Popart-Bemalung bzw. -aufdruck, sehr kunstvoll jedenfalls.
Hinter der Bankreihe an der Wand, auf Schulterhöhe, eine Ablage, darauf Kuben in Geschenkpapier, eine kleine Zimmerpflanze sowie rustikale Kerzenhalter ohne Kerzen, ausnehmend dekorativ. Die Wände sind in sehr hellem Lindgrün gehalten, unter den Pastellfarben sicherlich die dankbarste.
Die Frauen tragen Goldringe an mehreren Fingern und sprechen über dritte Personen, mit einiger Melodie in der Stimme. Sie unterbrechen ihre Gespräche nur, um zu telefonieren, dies jedoch in dreifacher Lautstärke, wodurch jeder Gast jedes Wort hören und sich auf nichts anderes mehr konzentrieren kann. Nur den dritten der anwesenden Männer bekümmert gar nichts, was hier geschieht; er raucht unausgesetzt und beobachtet die Luft.
Das Kaffeehaus befindet sich im Erdgeschoss eines Kaufhauses. Im Umkreis liegen mehrere Wettbüros, ein Krankenhaus sowie weitere Kaufhäuser, wo junge Frauen an den Kassen sitzen, die gefärbtes Haar und lange Fingernägel, lackiert in weniger dankbaren Pastellfarben, sowie unreine Gesichtshaut haben, die jedoch mit Make-up bedeckt ist.
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