Der Begründer der Wissenschaftstheorie

Denkstile und Denkkollektive

Sind es Denkkollektive oder einzelne Genies, die bahnbrechende Erkenntnisse gewinnen? Der Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck glaubte nicht an die "Helden der Wissenschaft", sondern an die Forschergruppe. Seine Theorie ist aktueller denn je.

Ludwik Flecks Hauptwerk, mit dem er bekannt werden hätte können, ist im Jahr 1935 erschienen. Wenn man diese Jahreszahl hört, ahnt man bereits, warum sein Werk zunächst wirkungslos blieb, erklärt die Wissenschaftshistorikerin Birgit Griesecke. Fleck war polnischer Jude, wurde deportiert und wanderte schließlich nach Israel aus.

Der Begründer der Wissenschaftstheorie

Fleck gilt heute als Begründer der modernen Wissenschaftstheorie. Sein Werk "Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache" ist eine Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv.

"Ein Denkkollektiv ist immer dann vorhanden, wenn zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen. Ein schlechter Beobachter, wer nicht bemerkt, wie anregendes Gespräch zweier Personen bald den Zustand herbeiführt, dass jede von ihnen Gedanken äußert, die sie allein oder in anderer Gesellschaft nicht zu produzieren imstande wäre", schreibt Ludwig Fleck in seinem Buch "Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache".

Das Umfeld bestimmt das Denken

Wie wir denken, das wird von unserem Umfeld bestimmt, von der Ausbildung, der Sprache, von der Tradition. Ludwik Fleck war Mediziner und interessierte sich deshalb für eine spezielle Fallstudie aus der Medizingeschichte: die Syphilis. Fleck arbeitete heraus, dass es nicht der Syphilis-Forscher Wassermann allein war, der die so genannte "Wassermann-Reaktion" entdeckte. Er wurde später nur heroisiert.

"Das Individuum ist dem einzelnen Fußballspieler vergleichbar, das Denkkollektiv der aus Zusammenarbeit eingedrillten Fußballmannschaft, das Erkennen dem Spielverlaufe. Vermag und darf man diesen Verlauf nur vom Standpunkte einzelner Fußstöße aus untersuchen? Man verlöre allen Sinn des Spieles!“, erklärt Ludwig Fleck in seinem Buch "Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache".

Ethnologische Theorie

Die Art, wie wir die Dinge sehen, sind zutiefst kulturell geprägt. Fleck nannte seine Wissenschaftssoziologie deshalb auch eine ethnologische Theorie. Man denke nur daran, wie weit die Denksysteme eines chinesischen und eines europäischen Arztes auseinander liegen können.

Der Wissenschaftstheoretiker und Mediziner Fleck wollte diese denkstilmäßige Beschränktheit aufzeigen und aufbrechen. Seine Theorie war für die damalige Zeit ungewöhnlich. Sie bezog erstmals soziologische und historische Momente ein, die die Entstehung von Erkenntnis beeinflussen.

Späte Wiederentdeckung

Flecks Werk wird häufig mit dem "Discours de la Methode" von Descartes verglichen. Seine Wirkung verzögerte sich jedoch um Jahrzehnte. Erst als sich Thomas Kuhn in seinem Bestseller "Structure of Scientific Revolution" auf Fleck bezog, begann eine zögerliche Rezeption des Fleck´schen Werkes, die sich seit den 1980er Jahren deutlich verstärkte und ihren Autor schließlich in den Rang eines Klassikers hob.

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipps
Ludwik Fleck, " Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache", Suhrkamp Taschenbuch, ISBN 3518279122

Ludwik Fleck, "Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze", Suhrkamp Taschenbuch, ISBN 351828004X