Ukraines Wahlfarce und ihre Folgen
Die friedliche Revolution
Noch nie hat die ukrainische Politik soviel internationales Interesse erregt: Ein postkommunistisches Regime veranstaltet eine Wahlfarce, und die Bevölkerung erzwingt die Annulierung. Am 26. Dezember gibt es einen neuen Anlauf zur Präsidentenwahl.
8. April 2017, 21:58
Schriftsteller Andrej Kurkow über den "Motor der Revolution"
Proteste nach der gefälschten Präsidentschaftswahl haben -zig Tausende Ukrainer auf die Straße gebracht. Nun soll die Stichwahl am kommenden Sonntag wiederholt werden. Wie geht es weiter mit der Demokratie im ukrainischen Staat?
Proteste in Orange
Am 21. November wählten die Ukrainer ihren neuen Präsidenten. In der Nacht darauf wurde das Land von einer Lawine des Unmutes überschwemmt, die sich auf die Kiewer Prachtstraße Kreschtschatik ergossen hatte. Fast eine halbe Million Menschen, gekleidet in Orange, die Farbe des Oppositionskandidaten Wiktor Juschtschenko, kamen ins Kiewer Stadtzentrum mit einem einzigen Vorsatz: gegen die massive Wahlfälschung zu protestieren. Bis zu drei Millionen Stimmen sollen bei der Wahl zugunsten des Regierungskandidaten Wiktor Janukowitsch gefälscht worden sein.
Die Geburt einer Nation
Vor der Wahl hatten nicht einmal die Soziologen den Ukrainern soviel Zivilcourage zugetraut. Und nun widersprachen die Menschen allen Erwartungen: Sie machten mobil - für ihr Recht auf demokratische Wahlen und für die freien Medien. Gegen die verruchten Manipulationsmethoden des alten Regimes, gegen die Allmacht der Wirtschaftsoligarchen sowie gegen die Machtergreifung durch den Ministerpräsident Janukowitsch, Kutschmas politischem Ziehsohn.
"Zusammen sind wir einig und unbesiegbar!"
Dafür harrten die Kiewer und ihre Mitstreiter aus der ganzen Ukraine aus - in friedlichen Protestkundgebungen und in ständiger Gefahr, der Staat könnte gegen sie Gewalt anwenden. Die Schilder der Sondereinheiten der Polizei, die in voller Einsatzbereitschaft die von den Demonstranten umzingelten Regierungsgebäude bewachten, schmückten die Protestteilnehmer mit orangefarbenen Blumen.
"Die Polizei und das Volk sind einig! Diese Rufe wurden immer lauter, und bald bewirkte der sanfte Nachdruck der Orange-Farbenen sein erstes Wunder: Die Armee und die Polizei blieben neutral, und einzelne Einheiten traten sogar auf die Seite der Protestler über. Auf den Druck der Straße hin brach auch die einst regierungstreue parlamentarische Mehrheit zusammen. Bald darauf sprachen die Abgeordneten dem Kabinett Janukowitsch das Misstrauen aus.
Annullierung und Neuwahlen
Zwölf angespannte Tage und Nächte waren vergangen, bevor der Oberste Gerichtshof die Wahl für ungültig erklärte und eine Neuabstimmung festsetzte. Der neue Stichtag: der 26. Dezember. Für die auf dem Majdan war diese Nachricht Grund genug, ihren Sieg zu zelebrieren: "Zusammen sind wir einig, und wir sind unbesiegbar! In jener Nacht gewann der aktuelle ukrainische Revolutionssong zum ersten Mal eine neue, eine feierliche Bedeutung.
Gefahr der Spaltung drohte
Unterdessen holte der Regierungskandidat Janukowitsch zum Gegenschlag aus. Er ermutigte die ihm treuen Gouverneure der ost- und südukrainischen Gebiete dazu, mit der Abspaltung ihrer Landesteile zu drohen. Auf einer gemeinsamen Tagung forderten die östlichen Regionalbosse die Gründung eines neuen ukrainischen Teilstaates mit der Hauptstadt in Charkow und womöglich eine Anschließung dieses Staates an Russland. Hohe Gäste des Treffens: Regierungskandidat Janukowitsch, Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow und Russlands Botschafter in der Ukraine Wiktor Tschernomyrdin. Ein mehr als eindeutiges Signal, wer hinter diesen Aktionen tatsächlich steckte. Nach fast einem Jahrhundert wurde die Ukraine mit der Gefahr einer Spaltung konfrontiert.
Kutschmas Reaktion
Die Rufe aus der Provinz brachten den Noch-Präsidenten Kutschma aus seiner Untätigkeit der letzten Wochen endlich heraus. Scharf verurteilte Kutschma jeden Abspaltungsversuch der Regionalchefs. Den Ministerpräsidenten Janukowitsch, den Hauptverursacher Separatismus, setzte Kutschma jedoch nicht ab, sondern schickte ihn lediglich auf Urlaub.
Früchte der internationalen Vermittlung
In drei Verhandlungsrunden vermittelten die hohen internationalen Vertreter Javier Solana, Chef der OSZE, Jan Kubisch, die Präsidenten Polens und Litauens sowie der russische Duma-Sprecher Gryzlow zwischen Juschtschenko, Janukowitsch und Kutschma, bevor die Streitparteien zu einem Kompromiss gelangten. Das Ergebnis des Runden Tisches: Die von Kutschma favorisierte Verfassungsreform gegen ein neues Wahlgesetz, das Wunschkind der Opposition, das in Zukunft die Wahlfälschungen erschweren soll.
Das Parlament stimmte der Verfassungsreform zu, laut der die Ukraine ab September 2005 parlamentarische Demokratie werden soll. Der neue Präsident Wiktor Juschtschenko wird somit weniger Vollmachten besitzen als sein Vorgänger Kutschma. Im Oppositionslager dezimiert dieser Punkt für viele die Früchte, welche diese Revolution getragen hat.
Kommender Wahlsieger steht fest
Dass Juschtschenko die Wahl am kommenden Sonntag gewinnen wird, darüber gibt es wenige Tage vor dem Stichtag so gut wie keine Zweifel. Die Menschen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz und auf vielen anderen Plätzen landesweit haben es mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht. In den langen Protestkundgebungen haben sie allerdings nicht nur ihre politischen Sympathien verteidigt. Im vergangenen Monat sind sie selbst Zeugen und Erzeuger gewesen einer für ihr Land neuen staatlichen Formation - der Zivilgesellschaft, die es in der Ukraine nach 1991 nicht gegeben hatte.
Oppositioneller Regierungskandidat?
Von etlichen Mitstreitern verlassen, grenzt sich der einstige Regierungskandidat Janukowitsch vor der Neuabstimmung von den übrigen politischen Freunden ab, darunter auch von Kutschma, dem Leiter seiner Administration Medwedtschuk und den Wirtschaftsologarchen, die seine letzte Wahlkampagne durchgesponsort hatten. Ob das alleine hilft? Janukowitschs ehemalige Mitkämpfer geben es öffentlich zu: Die politischen Reserven des Ministerpräsidenten seien längst erschöpft.
Auf seine kommende Niederlage bereitet sich Moskaus Unglücksgünstling Janukowitsch auf eine eigentümliche Weise vor: Er präsentiert sich den Wählern als eine neue Opposition und wagt weiterhin Ausfälle gegen den Nationalleader Juschtschenko auf dem dünnen Eis des Separatismus.
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