Sperrig, spröd und von einer wilden Poesie
Haga Zussa
Man könne diese Erzählung und die Art, wie sie geschrieben ist, nur mögen oder nicht mögen, hat Anita Pichler einmal in einem Interview bekannt. Dazwischen gäbe es nichts. Das wiederum zeigt, wie radikal ihre Prosa ist, wie wenig verwurzelt im Mittelmaß.
8. April 2017, 21:58
"Haga Zussa", nein, das sei kein Titel für ein Buch, den könne doch niemand verstehen. Eine Zaunreiterin, die werde sich durchsetzen auf dem Markt, aber eine Haga Zussa? Anita Pichler hatte es leicht und schwer zugleich. Leicht, weil gleich ihr erstes längeres Manuskript bei Suhrkamp landete. Und schwer, weil dort niemand an den eigentlichen Titel ihrer Erzählung glauben mochte. Sie gab nach. Und so erschien ihr Erstling 1986 als "Die Zaunreiterin".
Eine unwichtige Episode, könnte man glauben, und doch: Vielleicht ist diese scheinbar zu vernachlässigende Meinungsverschiedenheit zwischen Verlag und Autorin ganz symptomatisch für dieses Buch: Ähnlich wie ihr ursprünglicher Titel verweigert sich die Erzählung dem schnellen Zugriff durch Leserschaft und Markt. Sie ist eben nicht geländegängig, sie ist sperrig, spröd und von einer wilden Poesie.
Grenzgängerin zwischen Tag und Nacht
Haga Zussa, das ist eine Frau, die zwischen den Welten steht, eine Grenzgängerin zwischen Tag und Nacht, Intellektualität und Intuition. Sie sei die Geliebte des Zufalls, deklariert sich die Ich-Erzählerin gleich zu Beginn des Buches. Mit ihren Fragebögen wandert sie von Tür zu Tür, um sich mit solchen und ähnlichen Aushilfsarbeiten über Wasser zu halten. In einer der Wohnungen trifft sie auf eine Frau im Rollstuhl. Sie kommt ihr vertraut vor - oder täuscht sie sich?
Die Begegnung mit der Fremden öffnet Schleusen: Nach und nach brechen innere Dämme. Plötzlich ist jener Teil der Vergangenheit wieder präsent, den sie längst archiviert zu haben meinte.
Fortan driftet die junge Frau durch die Tage und lässt sich von Erinnerungen treiben. Frühere Freunde oder Geliebte tauchen wieder auf, schmerzliche Begegnungen mit Menschen, denen sie seither ausgewichen ist, mit Krankheit und Tod, mit der eigenen Ratlosigkeit und Leere. Die Erzählerin weiß nicht mehr recht, wer sie ist, sie hat sich selbst aus den Augen verloren.
Geflecht von Stimmen, Motiven und Bildern
Es ist unmöglich, den Inhalt dieses Buches in ein paar Sätze zu bannen. Anita Pichlers Geschichte hat keinen linear dahin ziehenden Erzählfaden, sie ufert in mehrere Richtungen aus, ohne uferlos zu werden. Aus dem feinen Geflecht von Stimmen, Motiven und Bildern sind nach und nach die einzelnen Ereignisse herauszuhören. Aber auch sie sperren sich dagegen, wie auf einer Perlenschnur aufgereiht und gedeutet zu werden.
Das Suchen und Erkunden der eigenen Biografie bleiben offen. Alle sinnfälligen Erklärungen sind ausgespart, es gibt keine Moral, keinen erhobenen Zeigefinger, und kein leicht zu eroberndes Weltgebäude.
Fallgruben und Stolpersteine
Anita Pichler ist eine politische Autorin, und ihre "Haga Zussa" ein subversives Buch. In einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, lässt es sich nicht mehr locker und chronologisch dahinplaudern. Die zerrissene, fragmentarische Erzählweise des Buches irritiert. Es gibt Fallgruben, unebene Stellen, Stolpersteine. Eine fordernde, aber zugleich beglückende Lektüre.
Anita Pichlers Prosa ist rhythmisch durchgestaltet, ein virtuoses Stück Musik mit Variationen, Wiederholungen und kräftigen Modulationen. Doch der Klang, der solcherart entsteht und darin Sog und Eigenart entfaltet, wird nie Selbstzweck. Eine fein gebaute, reduzierte und zugleich sinnliche Prosa.
Buch-Tipp
Anita Pichler, "Haga Zussa - Die Zaunreiterin", Folio Verlag, ISBN 3852562848