Griechen vs. Türken
Die kleinasiatische Katastrophe
Es war ein Traum, der nach der Befreiung vom osmanischen Joch entstand: Der Traum von einem "Griechenland der zwei Kontinente und der fünf Meere". Die Griechen nannten ihren Traum "Megali Idea - große Idee". Seine Verwirklichung wurde zum Alptraum.
8. April 2017, 21:58
Begonnen hat der Traum von Groß-Griechenland im Jahr 1844. Ioannis Kolettis breitete vor der Verfassungsgebenden Versammlung die Vision eines Reiches aus, das alle von Griechen besiedelten Gebiete im Nahen Osten unter der Hauptstadt Konstantinopel vereinen sollte. Diese große Idee wurde zur außenpolitischen Grundlage des noch jungen Königreichs und inspirierte auch die Serben, Rumänen, Bulgaren und Albaner zu ähnlichen Gedanken.
Schritt für Schritt wuchs Griechenland. Die ionischen Inseln kamen 1864 dazu, Thessalien 1881. Mit der Einverleibung Nordgriechenlands und der Inseln der nördlichen und östlichen Ägäis im Juni 1913 war das Reich um etwa 70% gewachsen und hatte ungefähr zwei Millionen Einwohner dazubekommen.
Zu tiefe Kluft
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs spaltete Griechenland in zwei Lager: König Konstantin I. wollte sich mit seinen Verwandten verbünden, während sein Premierminister Eleftherios Veniselos die Entente bevorzugte. Wohl einigte man sich zunächst zähneknirschend - die Illusion Neutralität verpuffte angesichts des Kriegsverlaufs -, doch war die Kluft zwischen den beiden Lagern zu tief. Das "Nationale Schisma" rief bürgerkriegsähnliche Zustände hervor. König Konstantin verließ das Land, "Germanophile" wurden vertrieben.
Veniselos unterstützte die Entente an der makedonischen Front und bei der versuchten Niederschlagung der Russischen Revolution und forderte bei der Pariser Friedenskonferenz sein Stück vom sterbenden osmanischen Reich: Smyrna, die Stadt, in der mehr Griechen als in Athen lebten, samt Umgebung.
Griechenland der zwei Kontinente
Bevor aber irgendetwas vereinbart werden konnte, landeten italienische Truppen bei Antalya und marschierten Richtung Smyrna, was allgemeine Verstimmung hervorrief. Mit Billigung der Alliierten besetzten die Griechen am 15. Mai 1919 Smyrna. 350 Türken wurden im Lauf dieser Aktion brutal ermordet, was einerseits die türkische Nationalbewegung unter der Führung von Mustafa Kemal "Atatürk" zu neuem Leben anstachelte, und andrerseits einen griechisch-türkischen Guerillakrieg entfachte.
Nach dem Vertrag von Sèvres schien das "Griechenland der zwei Kontinente und der fünf Meere" (Mittelmeer, Ägäis, Ionisches Meer, Marmara-Meer, Schwarzes Meer) zum Greifen nahe: im März 1922 standen griechische Truppen 100 km vor Ankara. Doch dann wendete sich das Kriegsglück.
In der "falschen" Gegend
Am 26. August begann Mustafa Kemals Massenoffensive 300 km östlich von Smyrna, die Griechen mussten sich immer weiter zurückziehen. Am 8. September wurde Smyrna "evakuiert" - die üblichen Bevorzugten verließen die Stadt per Schiff. Wenig später brach Feuer aus. Die armenischen, griechischen und fränkischen Viertel brannten nieder, Gesetz und Ordnung brachen zusammen, 30.000 Menschen wurden ermordet, die Zahl der Ertrunkenen, die sich auf die vor der Küste beobachtenden Schiffe der Alliierten retten wollten, ist nicht überliefert.
Am 13. September 1922 war die 2.500 Jahre währende griechische Präsenz in Kleinasien zu Ende, nicht aber das Leid der in der "falschen" Gegend lebenden Menschen: Der am 24 Juli 1923 unterzeichnete Vertrag von Lausanne sah einen "Bevölkerungstausch" vor. Mehr als eine Million orthodoxe Griechen und etwa 400.000 Moslems mussten innerhalb von wenigen Stunden ihre Heimat verlassen.
Kaum Spuren in der Literatur
In der Literatur hat die kleinasiatische Katastrophe (der Fall Smyrnas und die gegenseitige ethnische Säuberung) bis heute nur sehr wenige Spuren hinterlassen. Eine der beeindruckendsten Schilderungen der letzten Tage von Smyrna liefert Jeffrey Eugenides am Beginn seines mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Romans "Middlesex". Und Yasar Kemals Insel-Trilogie, sein jüngstes Romanprojekt, ist - grob gesagt - dem "Bevölkerungstausch" gewidmet. In der Türkei hat dieses offiziell totgeschwiegene Werk binnen kurzem 50.000 Stück verkauft, und in Griechenland brachte es ihm die Ehrendoktorwürde ein.