Gewissensfragen für große und kleine Menschen
Lügen haben rote Ohren
Gewissensfragen für große und kleine Menschen, verrät der Untertitel. Und das Vorwort von Rainer Erlingers Buch trägt einen bedeutungsvollen Untertitel: Warum es sich lohnt, das Buch zu lesen. Es kann also nur um Moral gehen. Und das anders als gewohnt.
8. April 2017, 21:58
Rainer Erlinger, der gelernte Jurist, Mediziner und Autor der Kolumne "Die Gewissensfrage" in der Süddeutschen Zeitung macht es sich nicht leicht. Denn oberflächliches Geschichtenerzählen aus dem Fach "Ethik" ist nicht seines. Im ersten Kapitel geht es gleich um harte Kost: die Lüge. So wie im ganzen Buch stellen sich die Geschwister Ferdinand und Pia Fragen zu alltäglichen Situation und suchen Rat bei den Eltern oder beim weisen Onkel.
Sind Ausreden Lügen?
Pia, sie geht noch in die Schule wie ihr Bruder, hat ausgemacht, mit einer Freundin auf Urlaub zu fahren. Aber sie ist so verliebt in einen Schulkollegen und der geht bald mit seinen Eltern ins Ausland. Die drei Wochen mit ihrer Freundin würden also die letzten Wochen gemeinsam mit ihrem geliebten Schulkollegen dramatisch verkürzen. Was tu?: Eine Ausrede erfinden und die Freundin also anlügen?
Aus diesem Konflikt entsteht eine Diskussion über die Lüge. Vorbei an den katholischen Instanzen und ihren Philosophen zieht das Buch, kurzweilig tauchen Platon (Die Wahrheit geht allen Gütern voran) und Augustinus auf (Es gibt keine Lüge, die nicht das Gegenteil der Wahrheit wäre), um schnurstracks bei Thomas von Aquin und Kant zu landen. Endstation ist die wirklich knifflige Frage: Ist lügen erlaubt?
Philosophischer Diskurs
Der in der Philosophie entscheidende Diskurs zwischen dem Franzosen Benjamin Constant und Emmanuel Kant wird am Beispiel eines Skinheads, der einen Ausländer verfolgt, aufgerollt. Wie reagiere ich auf der Straße? Muss ich dem Radikalen die Wahrheit sagen auf die Frage: Wo ist der Ausländer hingerannt?
Kant verläuft sich in der Argumentation völlig stur: Wahrhaftigkeit ist eine Pflicht. Constant erwidert: Kein Mensch hat ein Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet.
Moral und Ethik
Im folgenden Kapitel diskutieren, oder besser, plaudern Ferdinand und der gescheite Onkel über Moral und ihre Wissenschaft, die Ethik. Manchmal werden die Figuren ein wenig unglaubwürdig, wenn Ferdinand bei der Frage "Will uns Moral die Freude am Leben vermiesen?" sagt: Ich glaube, ich bin weniger Aristoteliker als Hedonist. Das würde ein vielleicht 16-Jähriger heute wohl kaum sagen und klingt nach 70er-Jahre-Elite-Gymnasium.
Von der Lüge geht es geradewegs weiter zur Höflichkeit und beim folgenden Thema Liebe redet der Autor nicht lange herum und stellt die Frage: Ist ein Seitensprung etwas Unmoralisches? Pia spielt diese Frage am Beispiel ihres Freundes mit dem philosophier-freudigen Onkel durch.
Lebensrettende Ausnahmesituationen
Der Leser reist mit den beiden wissbegierigen jungen Leuten weiter zu den Regeln und Gesetzen, zu lebensrettenden Ausnahmesituationen, zu den Helden etwa, die Menschen aus den KZs retteten, und dabei klärt der Onkel die Frage, was denn das für ein Rechtssystem war im Dritten Reich.
Harte Themen wie Betrug, Strafe und Zivilcourage lässt der Autor ebenso wenig aus wie das etwas leichtere Thema Umweltschutz, wo die handelnden Personen allerdings wieder zu gescheit werden, Stichwort: Speziezismus, Biozentrismus. Aber auch hier bietet der Autor eine Fluchtmöglichkeit aus den vielen Ismen an und entführt, wie in jedem Kapitel, in die Welt der Jugendbücher, meist zu Astrid Lindgren, die ganz spielerisch lehrt, sich über die Wälder, Flüsse und Bäume zuerst einmal herzhaft zu freuen, um die Natur als Ganzes zu respektieren. Nach diesen knapp 200 Seiten hat jedenfalls auch der erwachsene Leser sein Moralsystem auf Schwachstellen abgeklopft.
Buch-Tipp
Rainer Erlinger, "Lügen haben rote Ohren", List Verlag, ISBN 3471774270