"Ungarische Juden" oder "jüdische Ungarn"?

Die jüdische Gemeinde in Budapest

Ein bunter Streifzug durch Stätten jüdischen Lebens im Budapest von heute - von der Schule bis zum kosheren Restaurant, von der grössten Synagoge Europas zum neuen Holocaust-Memorial-Center.

Nach Frankreich, England und Deutschland hat Ungarn die viertgrößte jüdische Gemeinde in Europa. Etwa 100.000 Juden leben heute in unserem östlichen Nachbarland, 90 Prozent davon in Budapest. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es rund eine Million - mehr als 600.000 von ihnen verloren im Holocaust ihr Leben.

Selbstbewusstsein und Gedenken

Begibt man sich auf die Spuren der jüdischen Gemeinde in Budapest heute, so scheinen zwei Strömungen gleichzeitig wichtig: das Entwickeln eines starken Selbstvertrauens einerseits und das Gedenken an die Opfer des Holocausts andererseits. Die junge Generation von ungarischen Juden steht selbstbewusst zu ihrer Tradition. Die ältere Generation hatte nach dem Holocaust und der Zeit des Kommunismus jegliches Selbstvertrauen verloren.

Geschichte der Juden in Ungarn

Bereits im 3. Jahrhundert lebten Juden auf dem Gebiet des heutigen Ungarn. Kaiser Joseph II. führte 1783 ein fast unbegrenztes Niederlassungsrecht für Juden ein. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erfolgte der große soziale Aufstieg der Juden. Nach dem Ersten Weltkrieg, dem Zerfall der Monarchie und den Revolutionen von 1918/19 wurde unter der Führung von Admiral Horthy der politische Antisemitismus zur offiziellen Ideologie. Ab 1920 und besonders ab 1938 traten unter seinem Regime eine ganze Reihe von antijüdischen Gesetzen in Kraft. Noch vor der deutschen Besetzung 1944 kamen etwa 42.000 ungarische Juden ums Leben. Der Holocaust begann in Ungarn am 16. April 1944. Er ist eng mit dem Namen Adolf Eichmann verbunden, der zum Symbol für die organisierte Vernichtung der Juden in Ungarn wurde. In weniger als drei Monaten wurden 1944 600.000 ungarische Juden in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet.

Antisemitismus heute

Vor etwas mehr als einem Monat gab es eine grosse Demonstration in der ungarischen Hauptstadt. Anlässlich des 60. Jahrestages der Machtübernahme der Faschisten gingen zehntausende Menschen auf die Straße und gedachten der Opfer des Rechtsextremismus. Auch die ungarischen Neo-Faschisten wollten aufmarschieren. Ihre Demonstration war allerdings verboten, ihre Anführerin kurzfristig verhaftet worden. Ungarn gilt als guter Boden für Vertreter neo-nazistischen Gedankenguts. Es gibt keine Gesetze, die Wiederbetätigung verbieten. Und im politischen Wahlkampf werden oft rechte Parolen verwendet.

Holocaust-Memorial-Center

"Judapest" nannte der antisemitisch eingestellte Wiener Bürgermeister Karl Lueger die Stadt. Heute steht dort das erste Holocaust-Memorial-Center im ehemaligen Ostblock. Eröffnet wurde es im April dieses Jahres. Es war am 60. Jahrestag des Beginns der Deportation ungarischer Juden.

"Ungarische Juden" oder "jüdische Ungarn"?

Eine grundlegende Frage, mit der sich auch Paul Lendvai in seinem Buch "Die Ungarn" auseinandergesetzt hat: "Die ungarischen Juden bildeten keine seperate Volksgruppe oder nationale Minderheit, sondern waren ein integraler Bestandteil der politischen Nation", schreibt Paul Lendvai. Er weist auf ihre Identifizierung mit der ungarischen Nationalbewegung ebenso hin wie auf die Übernahme der Sprache und der ungarischen Kultur.

Das ist auch der Grund, warum die jüdische Gemeinschaft 1993 im damals neu geschaffenen Minderheitengesetz nicht den Status einer Minderheit angenommen hat. Diese Haltung hat die ungarischen Juden einige Privilegien und finanzielle Unterstützung gekostet, die der Staat den eingetragenen Minderheiten sonst zusichert.