Sieben Äste - und viele Zweige
Die finno-ugrische Welt
Wer einmal versucht hat, Ungarisch zu lernen, weiß: die Sprache weist Besonderheiten auf, die sie von ihren Nachbarsprachen radikal unterscheiden. Ihre nächsten Verwandten heißen Chantisch und Mansisch - die in Westsibirien gesprochen werden.
8. April 2017, 21:58
23 Millionen Menschen in Europa und Sibirien sprechen eine der finnisch-ugrischen Sprachen. Doch allein die drei größten - Ungarisch, Finnisch und Estnisch - stellen über 20 Millionen davon.
Die kleinsten Sprachen zählen dagegen nur mehr ein paar Dutzend Sprecher - sie sind akut vom Aussterben bedroht.
Eine Entdeckung in der Polarnacht
Lange hatte man über mögliche Verwandtschaften des Ungarischen mit anderen Sprachen gegrübelt. Dann brachte ein Zufall des Rätsels Lösung.
Im Jahr 1768 begleitete der gelehrte Jesuitenpater János Sajnovics den slowakisch-österreichischen Astronomen Maximilian Hell auf eine Expedition in den hohen Norden; sie wollten das seltene Himmelsschauspiel des Durchzugs der Venus vor der Sonne beobachten. Auf der Insel Vardö, hinter dem Nordkap, fielen Sajnovics Ähnlichkeiten zwischen seiner Muttersprache und jener der dort ansässigen Samen (bzw. Lappen) auf - 1770 veröffentlichte er seine "Demonstratio", dass die Idiome der Ungarn und Lappen dieselben seien. Es war die Geburtsstunde der Finno-Ugristik.
Komplizierte Familienverhältnisse
Mit den finnischen und samischen Sprachen, so stellte sich später heraus, war das Ungarische aber nicht direkt verwandt - am nächsten stehen ihm nämlich zwei westsibirische Sprachen. Mit Chanti und Mansi bildet Ungarisch den ugrischen Zweig einer mehrfach verästelten Sprachfamilie.
Sprachwissenschaftler sind sich einig, dass die Großfamilie sieben Gruppen umfasst: die samischen, finnischen, mordwinischen, marischen, permischen, ugrischen und samojedischen Sprachen. Sie sind über ein riesiges Gebiet verbreitet: von Mitteleuropa und Skandinavien über den europäischen Teil Russlands bis weit nach Sibirien.
Es war vermutlich einst ein zusammenhängendes Siedlungsgebiet finnisch-ugrischer Völker bzw. Stämme, mit einem durchgängigen Kontinuum von Dialekten - das heißt, die jeweils nächsten Nachbarn konnten einander verstehen.
Bedrohte Vielfalt
Die Ausbreitung slawischer Völker bzw. Sprachen, die Expansion des russischen Reichs und die Ansiedlung sesshafter Bauern, wo Rentier züchtende Samen als Nomaden gelebt hatten, löste die Einheit des Sprachgebiets auf. (Die Ungarn, die gegen das Jahr 1000 nach langer Wanderschaft im Karpatenbecken ankamen, waren schon damals eine isolierte Sprechergruppe.)
Kleinere Sprachen sind seither gefährdet, in der Mehrheitsbevölkerung aufzugehen - es fehlen oft Schulen, eigene Medien, und oft auch (Bildungs-)Eliten, die motiviert sind, die Sprache weiterzuentwickeln.
Linguisten und Sozialwissenschaftler halten Sprachen mit weniger als 30.000 Sprechern für kaum überlebensfähig - bedroht sind demnach auch die beiden Brüder des Ungarischen, Chanti mit ca. 12.000 Sprechern und Mansi mit ca. 4.000 Sprechern. (Anmerkung: Nicht alle Angehörigen der Volksgruppe erlernen und beherrschen die Sprache.)
Ist eine Trendwende möglich?
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs gibt es intensive Kontakte zwischen den Sprachgruppen in der Russischen Föderation und in Europa.
Beim letzten Weltkongress finno-ugrischer Völker im August 2004 in Tallin entwarf der Sprachwissenschafter János Pusztay (Szombathely) düstere Zukunftsszenarios: Wenn die Entwicklung weitergeht wie bisher, dann wird sich die Sprecherzahl finno-ugrischer Sprachen bis zum Ende des Jahrhunderts halbieren, viele Sprachen werden für immer verschwinden.
Gedämpfte Hoffnung
Vielleicht ist zumindest für manche der Sprachen eine Trendumkehr möglich, hofft Pusztay: auch in Europa haben schließlich totgesagte Sprachen wie Walisisch, Gälisch oder Bretonisch durch interessierte junge Menschen eine Renaissance erfahren.
Download-Tipp
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Links
Institut für Finno-Ugristik der Universität Wien
Informationszentrum finno-ugrischer Völker
Rede von János Pusztay am Weltkongress finno-ugrischer Völker